Mit Formulierungshilfen ins Chaos
Wer in diesen Tagen die Beschlüsse des Bundeskabinetts verfolgt, stößt zunehmend auf den Begriff der „Formulierungshilfe“. Es klingt wie eine wohlmeinende Unterstützung für Patienten, die an einer Sprachhemmung leiden. Tatsächlich hat das Wort aber etwas mit der Erosion des Gesetzgebungsprozesses zu tun – zumindest wenn es sich häuft wie zuletzt. Dies ist alles andere als eine wohlmeinende Unterstützung in einer Gesellschaft, in der die Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform schwindet.
Worum es geht: Gesetzesinitiativen im Bundestag dürfen Abgeordnete direkt einbringen, in der Regel gehen sie aber von der Bundesregierung aus. Das Kabinett beschließt den zuvor mit Bundesländern und Verbänden informell konsultierten Regierungsentwurf. Dieser geht – anders als manche meinen – nicht direkt in den Bundestag, sondern erst in der Bundesrat. In der Länderkammer befassen sich die Fachausschüsse damit und nehmen Stellung. Das Plenum beschließt in einem nächsten Schritt. Zu den Änderungswünschen und Prüfbitten der Länder nimmt die Bundesregierung in ihrer „Gegenäußerung“ Stellung. Erst dann setzt der Bundestag die erste Lesung des Entwurfs auf seine Tagesordnung und überweist ihn in die Bundestagsausschüsse. Dort wird erneut beraten. Die Abgeordneten hören Sachverständige an. Sie beschließen Änderungen am Gesetzentwurf, die das Plenum üblicherweise übernimmt. Der Bundestag stimmt in zweiter und dritter Lesung zu.
Dann geht jeder Gesetzentwurf zurück in den Bundesrat. Diese zweite Runde wird meist in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Zustimmungspflichtige Gesetze kann die Länderkammer stoppen, nichtzustimmungspflichtige Gesetze – sogenannte Einspruchsgesetze – nur verzögern. In strittigen Fällen kommt der Vermittlungsausschuss ins Spiel. So weit die üblichen Verfahren.
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Bei sehr eiligen Vorhaben kann die Regierung das Gesetzgebungsverfahren abkürzen. Sie bittet die Regierungsfraktionen, den Entwurf selbst in den Bundestag einzubringen. Da Abgeordnete weder Erfahrung im Verfassen von Gesetzestexten haben noch die Ressourcen dafür, liefert die Regierung eine „Formulierungshilfe“ – geschrieben in den Fachministerien. Die erste Runde im Bundesrat fällt damit flach. Beraten wird direkt im Bundestag. Damit schwinden aber auch die Möglichkeiten, Gesetzesvorlagen zu prüfen und handwerkliche Fehler auszumerzen. In einer der jüngsten Formulierungshilfen waren – noch im Entwurfsstadium – die Kosten der Gaspreis- und Wärmebremse mit „ca. 546 Milliarden Euro in den Jahren 2023 und 2024“ angegeben. Das ist mehr als der gesamte Bundeshaushalt. Es fehlte ein Komma: Die Kosten werden auf 54,6 Mrd. Euro für die zwei Jahre geschätzt.
Zugegeben: Die Regierung ist seit der Invasion Russlands in die Ukraine im Krisenmodus. Gleichwohl führt die hektische Gesetzgebung zu Fehlern. Beamte schieben Überstunden bis in die Nacht. Wirklich prüfen können die Abgeordneten die „Formulierungshilfen“ mit ihren wenigen Mitarbeitern nicht. Sie müssen auf die Ministerien vertrauen.
Die Hektik überträgt sich auf Länder und Verbände. Die „Formulierungshilfe“ für die durchaus komplexe Gaspreis- und Strompreisbremse sowie die Abschöpfung von Erlösen der Kraftwerksbetreiber legte die Bundesregierung am Dienstagvormittag vor. Die Stellungnahmefrist für Länder und Verbände lief bis 18 Uhr am selben Tag. Selbst wer Lobbyisten nicht liebt, muss einräumen, dass der Blick aus der Praxis bei praxistauglicher Umsetzung hilft. Nicht zuletzt bei diesem Gesetzespaket musste die Regierung zurückrudern. Die Abschöpfung von Erlösen bei den Kraftwerksbetreibern beginnt doch nicht rückwirkend zu 1. September, sondern erst zum 1. Dezember.
Bei der zusätzlichen EU-Energiekrisenabgabe hat am Ende das Kanzleramt entschieden, bei welcher Konstruktion verfassungsrechtlich die geringsten Risiken liegen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Abgabe in der EU verhandelt, die so etwas Ähnliches wie eine Steuer ist. Steuern sind das Ressort des Finanzministers. Zuständigkeiten zu wahren hilft auch bei verlässlicher Gesetzgebung.