Versicherungswirtschaft

Mit Telematik in die neue Ära der Mobilität

Dank Telematik eröffnen sich für Versicherer neue Möglichkeiten. Aber Daten sind ein sensibles Thema.

Mit Telematik in die neue Ära der Mobilität

Von Michael Flämig, München

„Die Telematiktarife werden für Versicherer immer wichtiger“: Dieser Satz findet sich auf Seite 63 des aktuellen Geschäftsberichts der Versicherungskammer Bayern. Kein Aufreger, gewiss. Und doch: Vor einem Jahrzehnt hätte eine solche Aussage zumindest aufhorchen lassen. Die Deutschen galten als Hohepriester des Datenschutzes. Eine lückenlose Aufzeichnung aller Fahrten mit dem Auto? Die Vorstellung, dies ihren Kunden zu verkaufen, trieb den Versicherern die Schweißperlen auf die Stirn.

Davon ist mittlerweile nichts mehr zu sehen. Einerseits haben die Spitzenunternehmen der Assekuranz in enger Kooperation mit staatlichen Datenschutzbeauftragten zumindest ihre eigenen Offerten wasserdicht gemacht. Andererseits ist der Zeitgeist über die Bedenken hinweggegangen, datensammelnde Handys sind zum Alltagsbegleiter geworden. In ihrem Geschäftsbericht kann die Versicherungskammer daher ohne falsche Vorsicht schreiben, mit ihrer Police Kfz Vario Fahrstil erhalte sie einen leichteren Zugang zu Fahrerdaten. Dies helfe, „Datenströme besser zu verstehen“.

In der schönen neuen Welt ist dies jedoch genau das Problem. Wer einige Terabyte anhäuft, der hat deswegen noch lange nicht den Durchblick. „Sie brauchen schlichtweg statistische Masse, um wirklich Zusammenhänge erkennen zu können“, erläutert Jürgen Heitmann, Vorstandsvorsitzender der HUK-Coburg.

Der Branchenprimus unter den Autoversicherern Deutschland hat seinen Telematik-Tarif Anfang 2017 bundesweit ausgerollt und 2018 einige Zeit mit der Suche nach der richtigen Erfassungshardware vertan – letztlich wurde es eine kleine Karte an der Windschutzscheibe in Verbindung mit dem Handy. Seit April 2019 ist der HUK-Coburg-Tarif für alle Altersgruppen geöffnet. Autoversicherungsvorstand Jörg Rheinländer beziffert als nötige Masse 200000 bis 300000 Fahrer mit einem Telematik-Vertrag. Der Grund für die hohe Zahl: „Wir benötigen genügend Schäden, um statistisch signifikante Aussagen machen zu können.“

Wichtig für die Beitragshöhe

Ende vergangenen Jahres hat die HUK-Coburg als Marktführer auch im Telematik-Segment diese Größenordnung erreicht, mittlerweile haben sogar mehr als 400000 Autofahrer diesen Tarif gewählt (siehe Grafik). Dies zeigt, bei aller Offenheit der Kundschaft, wie lange der Weg zur notwendigen Schwungmasse ist. Drei Gruppen von Kunden seien interessiert daran, den Telematik-Tarifvertrag abzuschließen, so die Erfahrung von Vorstand Rheinländer: Technologisch versierte Autofahrer, Eltern für ihre Fahranfängerkinder und an Einsparungen interessierte Bürger.

Den Kunden wird viel Wahlfreiheit geboten, denn die HUK-Coburg räumt für den Telematik-Teil der Autoversicherung ein tägliches Kündigungsrecht ein. „Das Thema Daten ist in Deutschland sehr sensibel“, erläutert Rheinländer. Wer dabei bleibt, der durchläuft meist eine typische Telematikkarriere. Anfangs sehe man eine Veränderung, dann sei das Fahrverhalten sehr stabil, berichtet der HUK-Coburg-Vorstand: „Wir haben wenige, die sich dauernd verbessern.“ Jeder erhält erst einmal einen Startbonus in Höhe von 10% auf den Beitrag in der Kfz-Haft­pflichtversicherung und Kasko. Nach einiger Zeit wird ein Bonus berechnet, der auf dem Fahrverhalten basiert – er kann bis zu 30% betragen, aber auch auf null sinken.

Für die Versicherungswirtschaft ist ein anderer Punkt relevant: Sind die Erkenntnisse aus der Fahrweise aussagekräftig für das Risiko, das der einzelne Fahrer eingeht – und damit für die Beitragshöhe? Seit 1996, als der Markt dereguliert wurde, berücksichtigen die Versicherer immer mehr Merkmale in ihrer Tarifierung. Die Wirkung jedes neuen Merkmals musste dann im Bestand erst einmal überprüft werden.

Vorbereitet auf Statistik

Mittlerweile sind die Telematikkunden der HUK-Coburg mit dem aktuellen Tarifangebot rund 4 Mrd. gefahren, hinzu kommen die 1,4 Mrd. Kilometer des anfangs auf die jungen Erwachsenen beschränkten Tarifs. Für Rheinländer ist klar: „Auf dieser Basis trauen wir uns zu, aktuarielle Aussagen zu machen.“

Seine zentrale Erkenntnis auch aus rund 18000 Unfällen in dem Tarif mit Datenauswertung: „Telematik ist das drittwichtigste Merkmal in der Prämiendifferenzierung.“ Schadenfreiheitsklasse und Typklasse hätten ein noch höheres Gewicht. Während die Schadenfreiheitsklasse vom niedrigsten zum höchsten Beitrag um den Faktor 7 differenziere, liege der Faktor im Fall Telematik wohl zwischen 3 und 5.

Genauer möchte sich der Vorstand der HUK-Coburg noch nicht festlegen, weil die Pandemie auch an dieser Stelle als Störfaktor wirkte. „Das Jahr 2020 war ein untypisches Jahr“, erklärt er. Das Fahrverhalten sei völlig anders als sonst gewesen: „Die Umgebungsfaktoren hatten sich so stark geändert, dass die Unsicherheit groß bleibt.“

Wohin führen die Telematikerkenntnisse die Versicherer? In den Vereinigten Staaten erhalten Autofahrer einen Vertrag mit vorläufiger Beitragshöhe, der erst nach einem Monat Telematikfahren endgültig bestimmt wird. Hierzulande muss sich die Assekuranz aber vor allem darauf vorbereiten, dass immer mehr Bürger nicht mehr ihr eigenes Auto hegen und pflegen, das sie folgerichtig jährlich versichern. Wenn Mobilität sich aber ändert, wird die statistische Relevanz der Telematikdaten zum erfolgskritischen Faktor.

„Wir stehen künftigen Mobilitätsformen sehr aufgeschlossen gegenüber“, erklärt denn auch Rheinländer. Aktuell lege die HUK-Coburg die Grundlagen, die dann für neue Geschäftsmodelle genutzt werden könnten: „Wir werden auf jeden Fall in drei bis fünf Jahren solche Lösungen sehen.“ Die Annahme der Assekuranz: Mobilitätsformen könnten dann situativ und kurzfristig genutzt werden. Für HUK-Coburg-Chef Heitmann ist es wichtig, „sehr schnell Rückschlüsse auf den Versicherungsbedarf bei solchen Mobilitätsvarianten ziehen zu können“.