Geburtenrate

Neue Volkszählung lässt China alt aussehen

Die Ergebnisse von Chinas jüngster Volkszählung sind ein echter Hingucker. Der Zensus für die Jahre 2011 bis 2020 hat den Wirtschafts- und Sozialplanern schwarz auf weiß vor Augen geführt, dass das Reich der Mitte aufgrund einer prononcierten...

Neue Volkszählung lässt China alt aussehen

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Die Ergebnisse von Chinas jüngster Volkszählung sind ein echter Hingucker. Der Zensus für die Jahre 2011 bis 2020 hat den Wirtschafts- und Sozialplanern schwarz auf weiß vor Augen geführt, dass das Reich der Mitte aufgrund einer prononcierten Geburtenschwäche in die demografische Problematik einer progressiven Bevölkerungsüberalterung hineingeschlittert ist. Die für westliche Indus­trieländer und Wohlstandsgesellschaften charakteristische Herausforderung erwischt China nun früher und härter als andere asiatische Schwellenländer.

Die Anzahl der Chinesen in der Altersgruppe über 65 Jahre ist in den vergangenen zehn Jahren um 60% angeschwollen. Damit kommt die nicht mehr erwerbstätige Bevölkerungsgruppe auf einen Anteil von 13,5 % an der Gesamtpopulation. Man ist also ganz dicht beim Schwellenwert von 14%, ab dem man laut international gängiger Definition von einer „alternden Gesellschaft“ spricht. Kein Wunder, dass in China Alarmglocken schrillen.

Geburtenrate im freien Fall

Es stellt sich die Frage, ob ein wesentlicher Quell für das chinesische Wirtschaftswunder der vergangenen 30 Jahre, nämlich die „demografische Dividende“, dahinzuschmelzen droht. Darunter versteht man den einem wundersamen Schmiermittel gleichkommenden wirtschaftlichen Nutzen, der sich quasi automatisch aus einer Bevölkerungsstruktur mit einem hohen Anteil von jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ziehen lässt.

Chinas unaufhaltsamer Weg zur alternden Gesellschaft beruht natürlich zum Teil auf hoch erwünschten wohlstandsbedingten Errungenschaften wie der Verringerung der Sterblichkeitsrate beziehungsweise der Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung im Zuge von verbesserter medizinischer Versorgung, Erfolgen bei der Armutsbekämpfung und verbessertem Umweltschutz. Reichlich unerwünscht jedoch ist der Rückgang der Geburtenrate. Zwar ist die chinesische Bevölkerung in der zurückliegenden Dekade noch um 5,4% auf 1,41 Milliarden Menschen angewachsen, das durchschnittliche jährliche Bevölkerungswachstum je­doch ist mit 0,53% auf das niedrigste Niveau seit den fünfziger Jahren gesunken.

Im vergangenen Jahr kamen noch 12 Millionen chinesische Babys auf die Welt, damit ist man genau auf dem Niveau des bisherigen Rekordtiefs Anfang der sechziger Jahre, als eine maoistische Wirtschaftspolitik die größte Hungersnot in der Weltgeschichte heraufbeschwor, der Dutzende Millionen Menschen zum Opfer fielen. Zuletzt lag die Geburtenrate als Anzahl der Geburten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bei 0,85% und erreicht damit erstmals überhaupt in der chinesischen Geschichte einen Wert von unter 1%.

Symbolische Wende

Wie hat die Staatsführung auf die ernüchternde demografische Datenvorlage reagiert? Für ihre Verhältnisse blitzschnell. Zwei Wochen nach Veröffentlichung ließ das Politbüro verkünden, dass Chinas berühmt-berüchtigte Geburtenkontrolle nach dem Übergang von der Ein-Kind- zur Zwei-Kind-Politik vor fünf Jahren erneut gelockert wird: Fortan dürfen chinesische Paare bis zu drei Kinder haben. Der nachlassende Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte von Familien erfolgt freilich nicht aus humanitären Gründen. Er ist vielmehr der denkbar späten Erkenntnis geschuldet, dass man mit staatlicher Kontrollwut demografisch regelrecht vor die Wand gefahren ist. Nun gilt es eine symbolische Wende auszurufen, ohne das Gesicht zu verlieren.

Bezeichnenderweise nutzt die Lockerung der Kinderpolitik denkbar wenig in Sachen Geburtenanregung. Seit dem Übergang zur Zwei-Kind-Politik im Jahr 2016 hat sich der Geburtenrückgang bei der städtischen Bevölkerung weiter beschleunigt. Angesichts exorbitant gestiegener Wohnungs- und Erziehungskosten kann sich die durchschnittliche chinesische Mittelstandsfamilie den möglicherweise vorhandenen Traum vom zweiten Kind wirtschaftlich nicht leisten oder ist nicht bereit, einen Lebensstandardverlust in Kauf zu nehmen.

Neue Familienpolitik gesucht

Als Resultat der Ein-Kind-Politik wird die chinesische Vorzeigefamilie von einem „kleinen Kaiser“ regiert. Seine erfolgreiche Erziehung verschlingt angesichts des ultrakompetitiven chinesischen Ausbildungssystems Unsummen. Um einen Baby-Boom zu entfachen, muss Chinas neue Drei-Kind-Politik mit einer massiven fiskalischen Entlastungskampagne für Mittelstandsfamilien und einer Entschärfung der Wohnungspreishausse flankiert werden. In der Ankündigung des Politbüros hat es nur einen zarten Verweis auf die Problematik gegeben. Nun darf man gespannt sein, wie es Peking gelingen kann, nach jahrzehntelang verfehlter Familienpolitik den dirigistischen Eifer zur Abwechslung einmal in demografisch sinnvolle Bahnen zu lenken.