Notiert inMoskau

Neuer Schlauch für alten Wein

Die Sanktionen zwingen Russlands Unternehmen zu einer neuen Netzwerkorganisation. Das Phänomen gab es aber auch schon früher. Die entsprechenden Risiken auch.

Neuer Schlauch für alten Wein

Notiert in Moskau

Neuer Schlauch für alten Wein

Von Eduard Steiner

In der Übernahme ausländischer Begriffe war man in Russland vor allem seit dem Ende der Sowjetunion kreativ und aktiv. In den 1990er Jahren machten es sich manche sogar zum Sport, täglich neue Fremdwörter aufzuschnappen und darüber zu berichten, wo sie welchen Begriff zum ersten Mal gehört hatten. Die Wörterbücher veralteten vor allem in der Umgangs- und der Wirtschaftssprache extrem schnell. Moderne englische Begriffe zogen in die russische Sprache fast überfallartig ein, deutsche mitunter auch. Französische hatten es nicht notwendig, denn die waren ohnehin seit Ende des 18. Jahrhunderts eingesickert und zur Modeerscheinung geworden. Ehe es zu einer Gegenbewegung in manchen Kreisen kam, die auf Teufel komm raus ohne französische Wörter rein russische Gedichte schrieben. Dies wiederum rief den Spott des großen Schriftstellers Alexander Puschkin (1799 bis 1837) hervor, der meinte: „Ist darum jeder Mist gleich Dichtung, weil er russisch ist?“

Zurück zur Gegenwart: In dieser nämlich ist plötzlich davon die Rede, dass unter dem Einfluss der westlichen Sanktionen eine Chaebolisierung der russischen Wirtschaft vonstattengehe. Ein Trend dazu sei feststellbar, sagen Experten und Beamte. Der Begriff Chaebol kommt aus der südkoreanischen Wirtschaft und bezeichnet ein zentrales Unternehmensnetzwerk, das eine Vielzahl unterschiedlicher Branchen umfasst. Chaebols, entstanden zum Wirtschaftsaufbau nach dem Koreakrieg in den 1960er Jahren, sind dort generell im Besitz einer Familie, die das Netzwerk kontrolliert, indem sie auf die Strukturen des eigenen Clans zurückgreift. Entsprechend sind Schlüsselpositionen im Chaebol auch von Familienmitgliedern besetzt. Dazu kommt eine großzügige staatliche Unterstützung. In den 1990er Jahren machten diese paar Dutzend Chaebols an die 80% des südkoreanischen BIP aus. In die Kritik gerieten sie, weil sie als Korruptionsnester galten, intransparent waren und ineffiziente Projekte realisiert wurden. Als Beispiele gelten Hyundai oder Samsung.

Was Russland betrifft, so wurde die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund der Sanktionen Finanz-, Handels- und Industrieaktiva in einer großen Geschäftsstruktur zusammenzuführen, zuerst vom stellvertretenden Industrieminister Wassili Osmakow thematisiert und mit dem koreanischen Begriff benannt. Angesichts der Sanktionen und des Weggangs westlicher Unternehmen nämlich steht das Land vor der Herausforderung, die industrielle und technologische Entwicklung selbst zu stemmen und zu finanzieren. Dafür brauche es eine neue „Synergie von Finanz-, Handels- und Industriekapital“, so Osmakow. Bislang würden die Bereiche zu fragmentiert arbeiten.

So neu ist das Phänomen großer Konglomerate in Russland freilich nicht. Manch oligarchische Holding trug Anzeichen von Chaebols. Die unter Putin entstandenen Staatsholdings ebenso. Und nicht nur das Kartellamt war besorgt um die Folgen. Also nichts als neue Namen für alte Phänomene.

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