Tokio

Olympisches Fettnäpfchen

Japaner gelten gemeinhin als bedacht und sorgfältig abwägend. Trotzdem machen immer wieder Politiker mit unsäglichen Äußerungen Schlagzeilen. Das hat einen ganz bestimmten Grund.

Olympisches Fettnäpfchen

Alle vier Jahrzehnte seien die Olympischen Sommerspiele verflucht, jammerte der japanische Finanzminister Taro Aso schon vor einem Jahr: 1940 verhinderte ein Weltkrieg, 1980 ein Boykott und 2020 eine Pandemie ihre Austragung. Doch der Alptraum geht weiter: Fünf Monate vor der geplanten Eröffnung am 23. Juli hat das Organisationskomitee seinen Präsidenten verloren. Der 83-jährige Yoshiro Mori hatte bei einer Diskussion über die Verdopplung der Frauenquote für Olympia- und Sportfunktionäre auf 40% gesagt, Sitzungen mit Frauen dauerten länger, weil sie sich aus Rivalität miteinander alle zu Wort meldeten.

Damit verursachte Mori einen Sturm der Entrüstung, wie Japan ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Zunächst lehnte er einen Rücktritt ab. Dann erklärte Akio Toyota, Chef des olympischen Großsponsors Toyota, seine „Enttäuschung“ über die Aussagen. Und Tokios Gouverneurin Yuriko Koike kündigte an, ein bevorstehendes Treffen von Mori und IOC-Chef Thomas Bach zu boykottieren. Die beiden Äußerungen bedeuteten das Aus für Mori.

Es war nicht die erste chauvinistische Äußerung des früheren Premierministers. Einmal beleidigte er kinderlos gebliebene Frauen: „Es ist absurd, dass wir für die Betreuung dieser Egoistinnen im Alter Steuergeld (für ihre Volksrente) ausgeben.“ Ein anderes Mal warf er einer Konkurrentin im Wahlkampf vor, die Opposition habe sie nur wegen ihres „schönen Körpers“ aufgestellt.

Für solche Tritte in Fettnäpfchen sind japanische Politiker schon lange bekannt. Ein Meister dieser Kunst ist der bereits erwähnte Finanzminister Aso. „Man sollte die Röhrenmenschen möglichst rasch sterben lassen“ – so verächtlich sprach er über künstlich ernährte, bettlägerige Alte. Premier Yasuhiro Nakasone trat 1986 ins rassistische Fettnäpfchen: „Wegen der vielen Schwarzen, Mexikaner und Leuten aus Puerto Rico ist das Intelligenzniveau in den USA viel niedriger als in Japan.“ Der Bürgermeister von Nagoya, Takashi Kawamura, be­hauptete 2012, die kaiserliche Armee hätte im Zweiten Weltkrieg keine Zivilisten getötet und keine Frauen vergewaltigt.

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Anfangs mögen solche Fehltritte überraschen, da Japaner sorgfältig zwischen öffentlichen und privaten Aussagen unterscheiden. Zudem schreiben Beamte die Reden von Politikern vor. Daher sollte es keine politisch unkorrekten Inhalte geben. Doch es gibt sogenannte „Wächterreporter“, die Politiker und Minister rund um die Uhr begleiten, in der Hoffnung auf peinliche Sprüche und Witze, die diese in kleiner Runde unter Gleichgesinnten machen. Dann tritt die Presse die Sätze breit und legt jedes Wort auf die Goldwaage. Immer wieder muss ein Minister oder Politiker wegen solcher unbedachter, sprich ehrlicher Sätze den Hut nehmen. Nicht selten gerät eine Regierung dabei aus dem Tritt.

Selbst schuld: Ins Kabinett kommt man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe in der ewigen Regierungspartei LDP sowie der Dauer der Parlamentszugehörigkeit, nicht wegen Kompetenz. Daher verteilte die LDP vor der Oberhauswahl 2019 ein Anti-Ausrutscher-Papier an Abgeordnete und Kandidaten. Zu meiden seien die Fettnäpfchen Weltkrieg, Gender und Homosexuelle, Opfer von Naturkatastrophen sowie Kranke und Alte.

Auch sollte man sich selbst nicht unnötig bloßstellen. Also nicht wie Yoshitaka Sakurada: Als Vizechef für das Cybersicherheit-Kabinettsbüro gab er zuerst zu, er habe noch nie einen Computer benutzt, und als Olympiaminister bedauerte er die Krebserkrankung einer Athletin – dadurch werde Japan eine Medaille weniger gewinnen. Auch er musste seinen Posten abgeben.

Doch im Fall von Yoshiro Mori passierte etwas Neues: Seine Frauenverachtung beleuchtete die Tatsache, dass in Japans Sport und Politik die Männer unter sich sind. Entscheidungen­ treffen die über 70- und 80-Jährigen im Hinterzimmer. Damit soll nun Schluss sein. Daher tagt seit Dienstag ein Auswahlkomitee für Moris Nachfolge, das paritätisch mit Männern und Frauen besetzt ist. Damit wachsen die Chancen, dass für die verbleibenden Monate eine Frau das Olympia-Organisationskomitee führen wird.