China

Optimismus-Pflicht für Ökonomen

Chinas konjunktureller Niedergang geht mit einer alarmierenden Verwahrlosung des Wirtschaftsdialogs im Reich der Mitte einher.

Optimismus-Pflicht für Ökonomen

­Nun liegen sie auf dem Tisch, die ersten chinesischen Wirtschaftsdaten für den Monat September. Die jüngsten Einkaufsmanager­indizes für Industrie und Dienstleister belegen eindrucksvoll, dass die von Corona-Restriktionen zerschossene Konjunktur auch vier Monate nach Aufhebung des denkwürdigen Schanghai-Lockdowns genau das nicht macht, was nach offizieller Lesart der Parteiführung längst der Fall ist, nämlich sich kräftig aufzubäumen.

Das offizielle Stimmungsbarometer des Statistikbüros zeigt eine Belebungstendenz in der Industrie, die gerade noch ausreicht, um gegenüber dem Vormonat nicht weiter zu schrumpfen. Der im Markt für zuverlässiger gehaltene private Einkaufsmanagerindex ist kräftig abgestürzt. Für die Exportindustrie, die im bisherigen Jahresverlauf die wichtigste Konjunkturstütze bildete, zeichnet sich für den Rest des Jahres eine heftige Abkühlung ab, die noch einmal deutlich Wachstumspunkte kosten wird.

Kürzlich hat die Weltbank ihren Bericht für Ostasien (ohne Japan und Korea) veröffentlicht, der plakativ heraushebt, wie Chinas Coronapolitik die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft zunehmend ins Abseits bringt. So laufen die Wachstumsprognosen für China und andere Länder der Region diametral auseinander. Erstmals seit Beginn des chinesischen Wirtschaftswunders Anfang der 90er Jahre zeigt sich das Reich der Mitte nicht mehr als Tempomacher, wird bei der Wachstumskraft vom ebenfalls kommunistisch regierten Vietnam deutlich überholt. Im Weltbankbericht wird die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in China auf 2,8% zurückgeschraubt. Im Juli lag sie noch bei 5%.

Die erste Wirtschaftsdatenverbreitung für September ist gleichzeitig auch die letzte vor Beginn des großen nationalen Parteikongresses, bei dem Chinas oberstes Führungsgremium für die kommenden fünf Jahre neu besetzt wird. Staatspräsident Xi Jinping hat erneut keinen Stoff bekommen, um die große Parteitagssause mit wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen beginnen zu können. Er wird umso worthülsenreicher blühende Wiesen versprechen, an die kein ernsthafter chinesischer Ökonom mehr zu glauben vermag, ohne dies freilich aussprechen zu dürfen. Parallel zum diesjährigen Niedergang der chinesischen Wirtschaft, die von rein politisch motivierten Corona-Res­triktionen geknüppelt ist, hat auch eine Politisierung des Informations- und Analyseflusses zur Konjunkturentwicklung stattgefunden, wie man ihn so noch nie erlebt hat.

Wer als Ökonom in Diensten eines chinesischen Forschungs- oder Finanzinstituts steht, ist nun von Staats wegen zu stupidem Optimismus verpflichtet, muss realitätsferne Wachstumsprognosen in den Raum stellen und sich hochnotpeinlicher Begründungszusammenhänge für den offiziell stets nahenden, aber wegen der Coronapolitik garantiert nicht stattfindenden Aufschwung bedienen. Umgekehrt gilt es für Finanzmarktanalysten, die um ihre Jobsicherheit bemüht sind, den Abwärtstrend an Chinas Aktienbörsen (wegen der glänzenden Konjunkturperspektiven) als fundamental nicht gerechtfertigt zu geißeln. Dem zuletzt wie ein Stein gegenüber dem Dollar gefallenen Yuan wird eine grundsätzlich stabile Entwicklung und eine Rolle als neuer Fels in der globalen Devisenmarktbrandung be­scheinigt.

Es gibt freilich eine Reihe von tapferen chinesischen Experten, die dem Kritikverbot zur Coronapolitik und ihren Konsequenzen die Stirn geboten haben. Dabei wurde auch Unmut über den Niedergang der einst gerühmten Wirtschafts- und Planungskompetenz Pekings und die Verwahrlosung des ökonomischen Diskurses ventiliert. Prompt hat man sie in Verbindung mit ihren realistisch-pessimistischen Prognosen seitens der Internet- und Medienzensur und/oder ihrer staatlichen Arbeitgeber aus dem Verkehr gezogen.

In den Vordergrund rückt dafür eine neue Garde von parteitreuen Wirtschaftswissenschaftlern, die auf andere Weise „rot sieht“. Sie feiern mit viel Enthusiasmus und wenig Theoriegerüst einen neuen Ansatz von ökonomischer Souveränität, unabhängiger Entwicklung und patriotischer Volksorientierung, der für eine noch viel stärker staatsgelenkte und von Staatsunternehmen dominierte Wirtschaft spricht. Im Einklang mit Chinas Nationalfarbe wird dies als „Red Economy“ bezeichnet. Einige bekannte Wirtschaftsprofessoren haben sich im Vorfeld des Parteitages auf diesen Trip begeben, der gemütlich zu werden verspricht. Weder wird von ihnen verlangt, dass sie im gegenwärtigen Umfeld mit Sachverstand glänzen, noch müssen sie befürchten, mundtot gemacht zu werden.

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