Pauschale Forderungen schaden mehr als dass sie nutzen
Heute trifft sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder, um sich über die Entwicklungen in der Corona-Pandemie auszutauschen und über die weiteren Maßnahmen zur Eindämmung zu entscheiden. Je stärker eine Branche vom Lockdown betroffen ist, desto lauter meldeten sich in den vergangenen Tagen die Lobbyverbände mit ihren Ansichten zu diesem Thema zu Wort – allen voran der Handelsverband Deutschland (HDE), der seit Monaten vor einem Kollaps insbesondere in den Segmenten Textilien, Mode, Schuhe und Lederwaren warnt. Nicht zu Unrecht.
Tatsächlich sind die Umsatzausfälle im laufenden Lockdown, der Mitte Dezember begann und damit auch einen großen Teil des Weihnachtsgeschäfts zunichtemachte, gewaltig. Während der stationäre Einzelhandel nach Angaben von Destatis 2020 insgesamt ein Plus von 4% verzeichnete, verlor der Modehandel nahezu ein Viertel seiner Vorjahreserlöse. Da die Geschäfte mindestens die Hälfte des ersten Quartals 2021 über geschlossen bleiben, werden die Ergebnisse stationärer Bekleidungshändler in dieser Periode noch verheerender ausfallen.
Dass sich der HDE im Interesse seiner Mitglieder für eine Öffnungsperspektive und einen schrittweisen Ausstieg aus dem Lockdown starkmacht, ist nachvollziehbar. Der Verband tut dies aber mit Argumenten, die in ihrer Schlagkraft höchst unterschiedlich sind. Das zu Wochenbeginn präsentierte Hygienekonzept ist z.B. bestens geeignet, um die Forderung nach Lockerungen im Einzelhandel zu stützen. So wären laut einem Gutachten der Uniklinik Bonn strengere Vorgaben für die Zahl der Kunden oder die Hygiene denkbar, die dann bei weiter sinkenden Inzidenzen gelockert werden könnten. Auch eine Studie der Berufsgenossenschaft für Handel und Warenlogistik (BGHW) sowie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), wonach unter den Beschäftigten der Branche kein erhöhtes Infektionsgeschehen festgestellt werden konnte, legt nahe, dass für Kunden im Einzelhandel ein sicheres Einkaufen möglich ist.
Der HDE erweist seinen Mitgliedern allerdings einen Bärendienst, wenn er immer wieder auf die Tränendrüse drückt und die drohende Verödung von Innenstädten als Argument für Ladenöffnungen und stärkere Finanzhilfen ins Feld führt. Dass nun auch die LBBW vor einer Monokultur aus Internetshops und 1-Euro-Läden warnt, macht die Behauptung nicht schlüssiger.
„Die Probleme der Händler bringen ganze Innenstädte ins Wanken. Wo der Handel stirbt, sterben Stadtzentren und Dorfgemeinschaften“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Allerdings ist das kein aktuelles Statement. Er schrieb das in einem Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am 10. Januar 2020 – zu einem Zeitpunkt also, als das Coronavirus in Deutschland praktisch noch kein Thema war. Auch das belegt, dass die Innenstadtproblematik nicht durch die Pandemie über die Maßen forciert oder gar hervorgerufen wurde, denn die Stadtzentren bestehen nicht nur aus Läden für Kleidung und Taschen.
Ebenso ist die Pauschalität der HDE-Forderungen nach schnelleren und stärkeren Finanzhilfen ein Ärgernis, auch wenn der Verband schwerlich zwischen den vor der Coronakrise kerngesunden und stark angeschlagenen (Mitglieds-)Unternehmen unterscheiden darf. Die Prüfung, ob die Angaben in einem Antrag auf Überbrückungshilfe korrekt sind, muss aber seriös durchgeführt werden. Die Prüfer bzw. die öffentliche Hand unter Druck zu setzen, ist im besten Falle unredlich.
In Zeiten, in denen die Milliarde die kleinste Recheneinheit des Staates zu sein scheint, darf daran erinnert werden, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. Also sollte nicht jeder Forderung nach Finanzhilfe nachgekommen werden. Die Konjunkturflaute führt bereits zu einer Verschlechterung des Konsumklimas und des Einkaufsverhaltens. In einigen Segmenten des stationären Einzelhandels – neben Mode und Schuhe vor allem Spielwaren und Uhren/Schmuck – wird es daher zu einer Marktbereinigung kommen. Daran mögen in vielen Fällen die Pandemie und ihre Folgen Schuld haben, zu einem weitaus größeren Teil ist aber der Strukturwandel dafür verantwortlich, der durch die Krise nur beschleunigt wurde. Ein Modeladen in bester Innenstadtlage war auch vor Corona nur in seltenen Fällen noch konkurrenzfähig, etwa weil der Online-Handel mit den Jahren zu viel Umsatz abgegriffen hat. Die Steuerzahler heutiger und künftiger Generationen dürfen aber nicht für jedes Opfer im marktwirtschaftlichen Wettbewerb geradestehen.