Japan

Postolympische Hypotheken

Die Olympischen Sommerspiele sollten die Öffnung Japans gegenüber dem Ausland vorantreiben. Durch die Corona-Maßnahmen haben sie jedoch eher zum Gegenteil geführt. Darunter leiden Gesellschaft und Wirtschaft.

Postolympische Hypotheken

Von Martin Fritz, Tokio

Das Abschluss-Feuerwerk ist verglüht, die olympische Flamme erloschen. Doch die rekordhohen Ausgaben und die Isolierung der Ausländer als die wichtigsten Erbschaften dieser „Spiele zur Feier der XXIII. Olympiade“ in Tokio dürften noch lange nachwirken.

Bei der letzten Bewerbungsrunde 2013 hatte die Stadt ihre Olympia-Ausgaben mit 734 Mrd. Yen (5,6 Mrd. Euro) veranschlagt. Bis Ende 2020 waren diese Kosten um 124% auf 1,64 Bill. Yen (12,6 Mrd. Euro) gestiegen. Ein Sechstel – 294 Mrd. Yen – ist auf die Verschiebung und die Anti-Corona-Maßnahmen zurückzuführen. Durch den Verzicht auf Zuschauer entstand ein neues Budgetloch von 90 Mrd. Yen (692 Mill. Euro). Wahrscheinlich muss die Stadtregierung für die entgangenen Einnahmen aus dem Verkauf der Eintrittskarten geradestehen. Die Finanzen dieser reichen Stadt, die bisher ohne staatliche Zuschüsse auskam, sind jedoch angeschlagen. Ihre Reserven schrumpften innerhalb eines Jahres von 935 Mrd. auf 250 Mrd. Yen. Noch haben die Veranstalter ihre Abschlussrechnung nicht vorgelegt. Mit voraussichtlich 1,75 Bill. Yen (13,5 Mrd. Euro) dürfte „Tokyo 2020“ den Ausgabenrekord von London 2012 von 8,9 Mrd. Pfund (10,5 Mrd. Euro) weit übertreffen.

Zugleich enttäuscht die Haben­seite der Bilanz. Analyst Shinichiro Kobayashi von MUFJ Research and Consulting schätzte den wirtschaftlichen Nutzen der eigentlichen Austragung auf „fast null“. Allein durch den Verzicht auf Zuschauer entging Japan laut dem Ökonomen Katsuhiro Miyamoto eine Wirtschaftsleistung von 2,4 Bill. Yen (18,5 Mrd. Euro). Die 68 japanischen Sponsoren, die sich zusätzlich zu den 14 Welt-Sponsoren engagierten, blasen ebenfalls Trübsal. Sie zahlten 361 Mrd. Yen (2,8 Mrd. Euro) in die Olympia-Kasse, doch die erhofften Steigerungen von Umsatz und Markenwert dürften bei vielen ausgeblieben sein. Im Vorlauf der Spiele verzichteten viele Unternehmen wegen der kritischen Haltung der Bevölkerung sogar ganz auf Werbung mit Olympia.

Auch der langfristige Nutzen hält sich wohl in Grenzen. Infolge der weltweiten Pandemie wird die Zahl der ausländischen Besucher in Japan erst in einigen Jahren wieder das Niveau von 2019 erreichen, als knapp 32 Millionen Ausländer kamen. Doch nur wenige künftige Besucher werden nach Tokio reisen, weil dort die Sommerspiele stattgefunden haben. Für einen negativen Effekt sorgen dagegen die sieben neuen Sportstätten, die für 290 Mrd. Yen (2,2 Mrd. Euro) entstanden. Sechs davon lassen sich kaum wirtschaftlich betreiben – die berüchtigten „weißen Elefanten“. Allein der Unterhalt des Nationalstadions kostet jährlich 18,5 Mill. Euro. Die Stadtregierung will die Laufbahn abbauen und die Nutzungsrechte verkaufen, aber es gibt in Japan wenig Bedarf für ein Stadion mit 68000 Plätzen.

Die 27 Goldmedaillen von Tokio bedeuteten einen Rekord für ein japanisches Olympia-Team. Doch der öffentliche Jubel über die Siege kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Austragung der Spiele mitten in der Pandemie mittelfristig negativ auf Gesellschaft und Wirtschaft auszuwirken droht. Eigentlich wäre Olympia der Höhepunkt einer beispiellosen Öffnung für ausländischen Einfluss gewesen. Binnen zehn Jahren wuchs die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte um die Hälfte und die Zahl der ausländischen Touristen um das Vierfache. Japan hieß viele Auslandsinvestoren willkommen und erlaubte sogar den Verkauf von „Perlen“ wie Sharp an Chinesen.

Durch Olympia als Fest der Völkerverständigung rückten die Diskriminierung von Ausländern, die Benachteiligung von Frauen, die Rechte von LGBT-Minderheiten und die Integration von Menschen mit Behinderungen auf der politischen Tagesordnung weit nach oben. Deshalb verlor der mächtige Olympia-Chef Yoshiro Mori wegen einer sexistischen Bemerkung sein Amt. Ein Modernisierungsschub stand bevor, der Japan für Einwanderer und Start-up-Gründer attraktiver gemacht hätte. Doch die Entscheidung, die Bevölkerung und die Ausländer des Olympia-Trosses voneinander zu isolieren, könnte diese Effekte verhindert haben. Die Begegnung mit dem bunten Völkergemisch wurde als Bedrohung statt als Bereicherung gesehen. Die Gesellschaft verschloss ihre Türen, statt sie aufzumachen.

Isolierung statt Öffnung

Unter dem Eindruck der Pandemie sind Japans Bewohner und Politiker in die Mentalität von Sakoku zurückgefallen. Sakoku bezeichnet die Abschließung Japans zwischen 1639 und 1853, als Ausländern die Einreise streng verboten war. Diesmal begann die Selbstisolierung im März 2020, als Japan seine Grenzen schloss und nur noch Japaner einreisen ließ. Alle Ausländer mit japanischem Wohnsitz durften ein halbes Jahr lang nicht zurückkehren. Der Doppelstandard gilt bis heute: Seit Ende Juni erlaubt die EU allen Japanern die Einreise, aber Japans Grenzen bleiben für EU-Ausländer dicht.

Noch lässt sich nicht absehen, ob Japans Manager diese Hinwendung nach innen mitmachen. Dann würden die Zahl und das Volumen japanischer M&A-Deals im Ausland zurückgehen. Als ungutes Zeichen lässt sich die starke Skepsis gegenüber Homeoffice deuten. Der Anteil der Firmen mit Homeoffice ist von anfangs knapp 30% auf unter 20% gefallen. Dabei würde Telearbeit helfen, die japanische Arbeitswelt mehr auf Leistung als auf Präsenz auszurichten und die niedrige Produktivität zu steigern.