Raiffeisen-Prozess: Worum geht es da nochmal, bitte?
Dem sogenannten Raiffeisen-Prozess, in dem Pierin Vincenz, der frühere Chef der drittgrößten Schweizer Bank, und sein langjähriger Geschäftspartner Beat Stocker wegen gewerbsmäßigen Betrugs und einer ganzen Liste damit zusammenhängender Delikte angeklagt sind, mangelt es nicht an skandalösen Inhalten. Die in der Schweizer Presse ausgiebig dargestellten Ausschweifungen im Rotlichtmilieu, denen sich die beiden Hauptbeschuldigten auf Firmenkosten hingegeben hatten, bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs.
In der finanziellen Dimension weit bedeutender sind die diversen Übernahmetransaktionen, mit denen sich die beiden nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auf betrügerische Weise und eben teilweise gewerbsmäßig mit Hilfe von fünf Mitangeklagten um insgesamt 25 Mill. sfr bereichert haben sollen. Da ging es um mehrere Transaktionen von Raiffeisen und der Kreditkartenfirma Aduno, bei der Raiffeisen die größte Aktionärin ist. Vincenz amtierte bei Aduno in der fraglichen Zeit als Verwaltungsratspräsident und der Unternehmensberater Stocker als CEO im Teilzeitmandat.
Beide hatten sich vor der Übernahmetransaktionen heimlich an den Firmen beteiligt und so die Gewinne gemacht, die von der Klägerin jetzt als gewerbsmäßiger Betrug qualifiziert werden. Doch strafrechtlich setzt Betrug einen Schaden voraus, und dieser ist in den vorliegenden Fällen offensichtlich gar nicht einfach zu beweisen, wie die Staatsanwaltschaft selbst einräumt.
Eine einfache Methode zur Bemessung des Schadens wäre gewesen, die überhöhten Preise nachzuweisen, die Raiffeisen und Aduno unter dem Einfluss ihrer leitenden Organmitglieder Vincenz und Stocker für die diversen Firmenübernahmen bezahlt haben sollen. Doch dazu war die Klägerin aus praktischen Gründen nicht in der Lage. Deshalb sah sich die Staatsanwaltschaft gezwungen, ihren ursprünglichen Ansatz der Beweisführung kurzfristig zu ändern, wie ihr die Anwälte der Hauptbeschuldigten nun vorhalten. Auf der Suche nach einem anderen Weg sind die Kläger bei einem höchstinstanzlichen Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2018 fündig geworden. Dieses dreht sich um sogenannte Retrozessionen im Fondsgeschäft. Dabei handelt es sich um Vergütungen, die eine Bank oder ein Vermögensverwalter von der Fondsleitung für den Vertrieb von deren Anlagefonds erhält.
Diese Vergütungen, die auch „Kick-backs“ genannt werden, müssen seit dem Bundesgerichtsurteil offengelegt und an den Fondsanleger abgeführt werden. In der Analogie zu dem Bundesgerichtsurteil sieht die Staatsanwaltschaft Vincenz und Stocker in der Rolle des Vermögensverwalters oder der Bank, welche widerrechtlich Kick-backs in Höhe von 25 Mill. sfr zurückbehalten haben. Die mitangeklagten Altaktionäre der Zielgesellschaften, die ebenfalls ein Interesse am Zustandekommen der Transaktionen hatten, wären in dieser Analogie quasi in der Rolle der Fondsleitung, während die auf Schadenersatz klagenden Aduno und Raiffeisen als betrogene Fondskunden zu sehen wären.
Das Vorgehen mag aus Sicht der Staatsanwaltschaft zielführend und sinnvoll erscheinen. Für das breite Publikum, das sich im größten Schweizer Wirtschaftsstraffall seit der Swissair-Pleite vor 20 Jahren klare Antworten erhofft, könnte es aber zu einem enttäuschenden Ergebnis führen. Schon jetzt hört man aus den gerichtlichen Verhandlungen heraus, worüber sich Kläger und Beklagte in nächsthöherer Instanz streiten könnten: Entspricht das Bundesgerichtsurteil einer eigentlichen Praxisänderung, wie die Anwälte der Beklagten behaupten, oder geht es vielmehr um eine Präzisierung bestehender Rechtsprechung, wie die Staatsanwaltschaft behauptet? Diese Frage ist deshalb entscheidend, weil alle Fälle im Raiffeisen-Prozess lange vor 2018 stattgefunden haben. Je nachdem, ob man das Bundesgerichtsurteil als Praxisänderung oder als Fortsetzung bestehender Rechtssprechung beurteilt, kann es nicht oder eben doch auf den Raiffeisen-Fall angewendet werden. Wenn es dann so weit ist, wird in der breiten Schweizer Öffentlichkeit kaum mehr jemand wissen, worum es in dem schlagzeilenträchtigen Fall überhaupt konkret gegangen ist.