Sanktionen

Russlands Wirtschaft ist resilienter als erwartet

Russland schwimmt im Geld. Überhaupt scheint das Land die Sanktionen besser zu verdauen als erwartet. Jedenfalls bisher. Aber der Härtetest steht schon bald bevor.

Russlands Wirtschaft ist resilienter als erwartet

Von Eduard Steiner, Wien

Es sieht in Moskau so gar nicht nach Sanktionen aus. Vor allem Bürger ohne extravagante Wünsche kommen durchaus auf ihre Rechnung. Die Regale in den Supermärkten sind weitgehend voll. Restaurants und Cafés arbeiten im Normalbetrieb. Und auf den Straßen stauen sich die Autos wie eh und je. Aber nicht nur im Alltag herrscht Business as usual. Auch wirtschaftliche Kennziffern kommen plötzlich besser daher als noch vor zwei, drei Monaten.

Natürlich bricht die Wirtschaftsleistung ein. Aber hatte die Weltbank im April für 2022 noch ein Minus von 11,2% prognostiziert, so nun eines von nur 8,9%. Und die russische Zentralbank, die noch im April einen Rückgang von 8 bis 10% vorausgesagt hat, hält nun eine weichere Landung für möglich. Das wäre zwar immer noch eine der härtesten in der postsowjetischen Geschichte, aber doch vergleichbar mit jenen minus 7,9% in der Finanzkrise 2009.

Woher kommt die Widerstandsfähigkeit? Zum einen setzt ein Großteil der westlichen Firmen, die in Russland tätig sind, seine Geschäfte dort weiter fort. Zum anderen werden immer noch die vollen Lager abgebaut. Zum Dritten haben Transporteure neue Wege zur Umgehung der verbotenen Logistikrouten gefunden. Und zum vierten hat die Regierung mit der Anordnung über den Parallelimport den Zugang der Verbraucher zu Waren jener Unternehmen sichergestellt, die sich vom russischen Markt zurückgezogen haben. Durch das Gesetz nehmen zwar auch die gefälschten Waren zu. Aber am Eindruck, dass sich das Leben seinen Weg bahnt, ändert dies nichts.

Auch die Tatsache, dass sich die Gesamtwirtschaft bisher als widerstandsfähig erwiesen habe und nach einem leichten Märzwachstum im April um nur 3% gefallen sei, „ist durchaus logisch“, wie Oleg Wjugin, Wirtschaftsprofessor und bis vor wenigen Tagen Aufsichtsratschef der Moskauer Börse, erklärt. Wjugin nennt etwa das Faktum, dass die knapp tausend ausländischen Unternehmen, die eine Reduzierung des Geschäfts oder einen Totalrückzug angekündigt haben, vorerst die Löhne für drei Monate weitergezahlt und im Falle eines Verkaufs „eine zivilisierte Übergabe an den russischen Käufer organisiert haben“.

Reich an Devisen

Auch die einheimischen Unternehmer hätten aus früheren Krisen gelernt und würden etwa die Mitarbeiter kaum noch entlassen, da sie sie später aufgrund des Arbeitskräftemangels nur schwer gewinnen könnten, erklärt Alexandr Schirow, Direktor des Instituts für volkswirtschaftliche Prognose an der Akademie der Wissenschaften.

Als Hauptgrund, dass Russland nicht stärker wankt, machen Schirow wie Wjugin die immensen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport aus. Denn obwohl Russlands wichtigstes Exportgut, Öl, seit Kriegsbeginn mit einem Abschlag von 35 Dollar je Fass gegenüber anderen Ölsorten gehandelt wird, kostet es dennoch über 80 Dollar und damit doppelt so viel wie für ein ausgeglichenes Budget nötig. Selbst bei reduziertem Exportvolumen winkt dem Staat ein Leistungsbilanzüberschuss von über 200 Mrd. Dollar.

Unter der Oberfläche allerdings zeichnet sich bereits ab, was vielen Experteneinschätzungen zufolge ab dem Sommer zu einer tiefen Rezession führen wird. Denn der immense Leistungsbilanzüberschuss kommt nicht allein vom Ölpreis, sondern davon, dass die westlichen Sanktionen vorwiegend den russischen Import beschränken. Dieser könnte im Gesamtjahr um gut ein Drittel zurückgehen, meint die Zentralbank. Der einzigartige Nebeneffekt: Der Rubel, der kurz nach Kriegsbeginn tief gefallen war, ist nun stärker als zuvor – eine absurde Situation.

Das Land schwimmt also in Devisen – und kann doch nichts damit anfangen. Nicht zufällig beginnen Banken Strafzinsen für Devisenkonten zu verlangen. Und nicht zufällig hat die sonst so falkenartige Zentralbank den Leitzins, den sie zu Kriegsbeginn von 10,5 auf 20% hochgerissen hatte, inzwischen trotz 17,5% Inflation wieder auf 9,5% gesenkt. Der Rubel steigt dennoch.

Bevölkerung bereitet sich vor

Der fehlende Import hat aber noch eine andere Dimension, die dramatischer ist: Der Industrie fehlen Bestandteile. Schon jetzt zeigt sich, dass Abstriche bei der Qualität gemacht werden. Das russische Auto Lada Granta Classic 22 von der Fabrik Awtowas hat plötzlich keinen Airbag mehr. Warenangebot und Produktion könnten mittelfristig zurückgehen, bis sich die Wirtschaft angepasst habe, warnt die Zentralbank. „Der entscheidende Punkt ist der Import. Wenn er nicht wieder hergestellt wird, kann die Wirtschaft im Gesamtjahr auch um 10% einbrechen“, so Wjugin.

Die Menschen scheinen sich vorzubereiten. Im Wissen, dass die Realeinkommen nach einem zehnprozentigen Rückgang seit der Krim-Annexion 2014 nun um prognostiziert 5 bis 10% fallen werden, drosseln sie die Ausgaben. Allein im April fiel der Umsatz im Einzelhandel laut Wirtschaftsministerium um 6,7%.

Wie sagte Wladimir Putin? Alles, was jetzt passiere, solle letztlich zu einer höheren Lebensqualität führen. Allein, worin diese bestehe – so Konstantin Remtschukow, Chef des Medienhauses „Nesawissimaja Gaseta“ –, habe Putin nicht gesagt.

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