Schämen und entschämen
Drei Tage vor der Abschlussfeier bleiben die Olympischen Spiele mitten in der Coronavirus-Pandemie das wichtigste Thema in Japan. Olympia findet in einer „Blase“ statt, also ohne Kontakte zur Bevölkerung, damit keine Viren übertragen werden. Angesichts von nur 300 positiven Olympia-Tests in einem Monat hat sich die Bedrohungslage jedoch umgekehrt: Inzwischen sollte sich der Olympia-Tross vor Japanern in Acht nehmen, da Tokio täglich neue Infektionsrekorde meldet. Doch kein Offizieller wollte dies bisher zugeben.
Daher hat sich an dem zweierlei Corona-Maß, mit dem Olympia und das übrige Tokio gemessen werden, nichts geändert. Konkret heißt das: Wer sich innerhalb der Olympia-Blase mit dem Coronavirus infiziert, muss bis zu 14 Tage in ein Quarantänehotel umziehen. Quasi zur Strafe für die Ansteckung stellt Japan jede Gastfreundschaft ein, sperrt die Missetäter in ein Zimmer mit verschlossenen Fenstern und malträtiert sie dreimal täglich mit kaltem und fettigem Essen.
Außerhalb der Blase gelten weniger strenge Maßstäbe. Bis heute muss man beim Arzt klare Corona-Symptome vorweisen, um einen PCR-Test zu bekommen – die staatliche Krankenkasse ist nämlich ziemlich knauserig. Wer sich in einem privaten Testzentrum für umgerechnet 150 bis 230 Euro auf eigene Kosten untersuchen lässt, muss wiederum nicht damit rechnen, bei einem Positivbescheid gemeldet zu werden. Diese Ergebnisse werden offiziell nicht gezählt, weil der Test nicht von einem Arzt gemacht wurde.
Jetzt hat das Gesundheitsministerium seine nachlässige Einstellung zumindest in einem Punkt überdacht. Erstmals knöpft es sich diejenigen Ausländer und Japaner vor, die ins Land eingereist sind und sich danach nicht an die vorgeschriebene 14-tägige Selbstquarantäne gehalten haben. Wie die Olympia-Teilnehmer müssen diese Besucher und Rückkehrer ihre Körpertemperatur täglich in eine Smartphone-App eingeben. Das Ortungssystem ihres Handys muss eingeschaltet bleiben, damit sich automatisch prüfen lässt, ob die Wohnung oder das Hotelzimmer wirklich nicht verlassen werden. Die Behörde darf auch jederzeit anrufen und verlangen, dass man die Kamera einschaltet, um den aktuellen Aufenthaltsort zu prüfen. Einem deutschen Bekannten des Autors ist dies mehrere Tage hintereinander passiert.
Allerdings berichtete das Ministerium schon kurz nach der Einführung dieser Vorschriften von täglich über 100 Eingereisten, die sich keineswegs zwei Wochen lang selbst isolierten. Darauf drohte das Außenministerium den Ausländern, die dabei erwischt würden, mit dem Entzug der Aufenthaltsgenehmigung. Noch „härter“ sollte die Strafe für japanische Delinquenten ausfallen: Ihre vollen Namen würden ins Internet gestellt! In dieser Woche war es so weit: Die Behörde veröffentlichte die Namen von drei Japanern, die nach der Rückkehr aus Südkorea und Hawaii komplett abgetaucht waren.
An dieser Stelle verweisen viele Japanologen gerne auf die „Schamkultur“ des Inselstaates. So charakterisierte etwa die US-Völkerkundlerin Ruth Benedict die japanische Gesellschaft in ihrer Studie „Chrysantheme und Schwert“ von 1946. Eine äußere Instanz, also beispielsweise die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft, sanktioniere individuelles Fehlverhalten und beschäme den Einzelnen, der sich mit einer öffentlichen Entschuldigung wiederum „entschämen“ kann. Dagegen hätten Angehörige einer „Schuldkultur“, wie sie in europäischen Gesellschaften vorherrsche, die Fehlererkennung über ihr Gewissen verinnerlicht und fühlten sich ganz ohne Druck ihrer Gruppe schuldig. Als eine Ursache dafür nennen Soziologen das christliche Konzept der Sünde, das ein Schuldgefühl erzeuge.
Auf den ersten Blick wirkt diese Analyse überzeugend. Als Europäer in Japan wirkt dieser Unterschied allerdings ziemlich konstruiert. Benedict schrieb ihr Buch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, seitdem hat sich Nippon stark verwestlicht. Das Beschämen funktionierte vielleicht in der Dorfgemeinschaft, aber sicher nicht über eine Webseite des Gesundheitsministeriums. Die abschreckende Wirkung dieses Online-Prangers auf Quarantänebrecher dürfte sich daher eher in Grenzen halten.