Schicksalstage für Thyssenkrupp
THYSSENKRUPP
Schicksalstage
Von Annette Becker
In der Aufsichtsratssitzung von Thyssenkrupp geht es um weit mehr als den Einstieg von Daniel Křetínský in die Stahlsparte.
Wohin mit dem Stahl? Diese Frage stellt sich für Thyssenkrupp nicht erst seit dem Wechsel an der Führungsspitze von Martina Merz auf Miguel López vor ziemlich genau einem Jahr. Doch je mehr Geld aus dem Verkauf der Aufzugsparte aufgezehrt ist, desto drängender wird die Lösung des Stahlproblems. Von den einst 17 Mrd. Euro waren Ende März nur noch 3,5 Mrd. Euro übrig. Die Gefahr, dass der Stahl die Existenz des gesamten Traditionskonzerns bedroht, ist real. Umso weniger verständlich ist das Verhalten der IG Metall, die mit der Stahlsparte ihre Daseinsberechtigung zu verknüpfen scheint. Dabei sind von den 100.000 Beschäftigten „nur“ knapp 27.000 in der Division tätig.
Schon Heinrich Hiesinger – er stand von 2011 bis Mitte 2018 an der Spitze des Mischkonzerns – versuchte sich an der Lösung des Stahlproblems. Sein Vorhaben, die Sparte mit Tata Steel zu fusionieren, scheiterte bekanntlich am Widerstand der Brüsseler Kartellwächter. Zu diesem Zeitpunkt war Hiesinger allerdings längst nicht mehr an Bord. Der langjährige Thyssenkrupp-Chef hatte nicht nur mit seinen eigenwilligen Eigentümern so manchen Strauß ausgefochten, sondern musste sich auch von den Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären einige Verbalattacken gefallen lassen. Am Ende war es ihm zu viel.
Überkapazitäten
Ein vergleichbares Schicksal widerfuhr Martina Merz, die sich am Konzernumbau zur Group of Companies ebenfalls die Zähne ausbiss. Auch sie musste im Mai 2023 unverrichteter Dinge gehen. Insbesondere der Lösung des Stahlproblems ist sie trotz verschiedenster Ansätze nicht näher gekommen. Das Einzige, was sie erreichte, war, die Arbeitnehmervertreter und ihre beiden Vorstandskollegen gegen sich aufzubringen. Am Ende blieb dem Aufsichtsrat nichts anderes übrig, als Merz den Rücktritt nahezulegen. Es gibt ja Gründe, warum der Vorstand heute fünf Köpfe zählt.
Die Probleme des Stahlgeschäfts sind derweil nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: Der Weltmarkt ächzt seit Jahren unter stetig wachsenden Überkapazitäten. Verschärft wird das Problem aktuell noch durch die konjunkturelle Lage. Bis 2025, schätzt die OECD, wird sich die Lücke zwischen Stahlangebot und -nachfrage weiter ausweiten – auf dann 644 Mill. Tonnen. Das ist mehr als das Fünffache der Rohstahlproduktion der
27 EU-Mitgliedstaaten. Zugleich steht der grüne Umbau der Stahlindustrie erst am Anfang. Das Unterfangen ist nicht nur kostspielig, sondern tangiert auch unmittelbar die internationale Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Stahlproduzenten.
Schwer einschätzbarer Investor
Immerhin nimmt der Spartenvorstand nun das Heft in die Hand. Zumindest ein Grundkonzept liegt vor, das die längst überfällige Reduktion der Produktionskapazitäten um ein Fünftel samt Stellenabbau beinhaltet. Details gibt es dazu noch keine. Wohl aber einen vorläufigen Deal mit dem tschechischen Investor Daniel Křetínský, der sich in einem ersten Schritt mit 20% an der Stahlsparte beteiligen will. Damit sichert sich der schwer einschätzbare Multi-Investor ein Mitspracherecht, wenn es um die Ausarbeitung des neuen Stahlkonzepts geht.
Für Thyssenkrupp ist der Einstieg des Investors, mit dem letztlich eine 50:50-Partnerschaft angestrebt wird, existenziell. Denn allen anderslautenden Bekundungen zum Trotz kann den Umbau weder die Stahlsparte noch der Mutterkonzern aus eigener Kraft stemmen. Daran ändern auch die milliardenschweren Subventionen von Bund und Nordrhein-Westfalen für die erste und vielleicht einzige Direktreduktionsanlage nichts.
Kaum war die Absichtserklärung mit Křetínský publik, gingen die Arbeitnehmervertreter reflexartig auf die Barrikaden. Ins Visier genommen werden Vorstandschef López und Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm. An diesem Donnerstag tagt der Aufsichtsrat, der den Einstieg Křetínskýs absegnen muss. Verweigern die Arbeitnehmer López die Gefolgschaft, wird es eng. Denn ohne die Macht, notwendige Veränderungen durchzusetzen, ist auch López zum Scheitern verurteilt. Einen weiteren Wechsel an der Vorstandsspitze wird es mit Russwurm jedoch nicht mehr geben.