Siemens fährt einen neuen Kurs
Von Michael Flämig, München
Die Multimilliardenlöcher in der betrieblichen Altersvorsorge schafften es Anfang des Jahrhunderts noch auf die Titelseiten von Boulevardmedien. Der Tenor: Bosse prellen Arbeiter um ihre Rente. Mittlerweile weiß auch die breite Öffentlichkeit, dass dies Unsinn ist und Firmen für die Finanzierung geradestehen müssen. Investoren schauen dennoch genau auf die Deckungslücken. Schließlich sind es langfristige Schulden.
Siemens geht in dem dauerhaften Zinstief nun einen neuen Weg. Der Konzern, dessen Deckungslücke in den Jahren 2012 bis 2019 nie unter 7 Mrd. Euro lag, steckt in Rahmen des Konzernumbaus jede Menge Assets in die Pensionsvehikel. Der Erfolg auch infolge der Sonderdotierungen: Die Deckungslücke sank innerhalb zweier Jahre von 9,9 Mrd. Euro auf 2,8 Mrd. Euro per Ende September 2021.
Für Finanzvorstand Ralf Thomas ist das Ende der Fahnenstange damit nicht zwingend erreicht. „Wir hatten die Chance und haben sie noch weiterhin an einigen Stellen, die Pensionswirtschaft von Siemens so zu stärken und so auszufinanzieren, dass sie sich weitgehend selbst trägt“, sagt er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Mittelfristig gehen wir von einer Ausfinanzierungsquote von mehr als 90% aus.“
Noch vor einer Dekade klang es ganz anders aus der Finanzabteilung. Der damalige Finanzvorstand Joe Kaeser lehnte beispielsweise 2010 eine Sonderdotierung mit dem Argument ab, dass die Abzinsungssätze sicherlich wieder stiegen – dann hätte die Verpflichtung künftiger Pensionszahlungen mit aktuell weniger Vermögen unterlegt werden müssen, so dass die Deckungslücke automatisch geschrumpft wäre. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat derlei Hoffnungen pulverisiert. Der Abzinsungssatz, mit dem Siemens rechnet, stieg nicht, sondern sank von 6% kurz vor der Eskalation der Finanzkrise über 3% im Jahr 2015 über den Tiefpunkt von 0,7% auf zuletzt 1,3%.
Bessere Kapitalstruktur
Thomas versteht die Deckungslücke heutzutage als ein strukturelles Thema. Sie werde als Rückstellung in der Bilanz und zudem als Teil der Industriellen Nettoverschuldung des Konzerns erfasst. „Damit wirkt sie sich negativ auf die Kapitalstruktur aus“, erläutert er: „Das ist eine wichtige finanzielle Zielgröße für uns und auch für die Ratingagenturen, an der wir kontinuierlich arbeiten.“
Der Siemens-Finanzchef sieht noch weitere Vorteile der Strategie, die Lücke klug zu schließen: „Dazu kommt, dass die Einbringung verschiedener Asset-Kategorien für das Pensionsvermögen selbst Optimierungsmöglichkeiten bietet.“ So könne man die Laufzeit von Vermögen und Verpflichtungen viel besser in Einklang bringen. Dieser sogenannte Duration-Match könne so auf einem höher ausfinanzierten Niveau weiter verbessert werden.
Tatsächlich hat Siemens die Pensionspläne nicht einfach mit Liquidität vollgepumpt. Stattdessen wechseln reale Assets die Buchungsposition. Man habe verschiedene Möglichkeiten, den Pensionsfonds mit Sacheinlagen zu stärken, sagt Thomas: „Wir machen das seit einiger Zeit sehr systematisch und nachhaltig mit Assets, die nicht zum Kerngeschäft gehören und somit zur Ausfinanzierung der Pensionsverbindlichkeiten eingesetzt werden können.“
Vor gut zwei Jahrzehnten war Siemens zumindest gemessen an der Außenwirkung mit einem ähnlichen Ansatz auf die Nase gefallen. Infineon-Aktien kamen mit einem Wert von jeweils 45 Euro in den Pension Trust. Jahre später wurden sie teils deutlich unter 10 Euro verkauft. Insgesamt waren in den Geschäftsjahren 2001/02 bis 2004/05 Sonderdotierungen verschiedener Provenienz von rund 6 Mrd. Euro beschlossen worden.
Diesmal scheinen die wesentlich breiter gestreuten Deals aufzugehen. Im vergangenen Geschäftsjahr enthielten die Arbeitgeberbeiträge Dotierungen in Deutschland in Höhe von 1,9 Mrd. Euro: ein Anteil am Softwareunternehmen Bentley Systems (1,1 Mrd. Euro), mehrerer Zero-Coupon Receiver Swaps (368 Mill. Euro) und eine Eigenkapitalbeteiligung von 270 Mill. Euro. Im Jahr 2019/2020 wurden sogar 2,7 Mrd. Euro dotiert. Den größten Posten stellte ein Anteil von 9,9% an der Siemens Energy AG (1,9 Mrd. Euro), gefolgt von Immobilien der Siemens Real Estate.
Die Anlagepolitik ist dabei keineswegs eindimensional. „Solche Assets bleiben ja nicht zwingend auf Dauer im Pensionsvermögen, sondern können zum Beispiel auch marktschonend verkauft werden“, erläutert Thomas. Dies habe man sehr erfolgreich mit den Siemens-Energy-Aktien gemacht. Am 6. Juli war der Anteil auf 4,96% gesunken. „Der professionelle, kursschonende und extrem effiziente Abverkauf und selbst die Unterschreitung von 5% als Anteil des Pensionsvermögens an Siemens Energy im letzten Sommer ist im Markt ganz unaufgeregt zur Kenntnis genommen worden“, stellt Thomas fest. Das sei ein inzwischen erprobter und etablierter Mechanismus, der seines Erachtens sehr sinnvoll ist und voll transparent vonstatten geht: „Das haben mittlerweile auch einige andere Unternehmen erkannt und ähnlich gehandhabt.“ Daimler hatte angekündigt, 5% der Daimler Truck Holding AG nach deren Erstnotiz an den Daimler Pension Trust zu übertragen.
Das Vermögen zur Abdeckung von Versorgungsansprüchen betrug am 30. September 2021 33,5 Mrd. Euro. Diesem sogenannten Planvermögen standen Verpflichtungen von 35,5 Mrd. Euro gegenüber (Differenz zur Deckungslücke von 2,8 Mrd. Euro resultiert aus 0,8 Mrd. Euro, die als Nettovermögenswerte ausgewiesen im Posten Sonstige Vermögenswerte ausgewiesen sind). Die Verpflichtungen bestehen großteils gegenüber Pensionären und Hinterbliebenen (57%), aktiven Beschäftigten (29%) und Ehemaligen mit unverfallbaren Ansprüchen (15%).
Die Sonderdotierungen mit Assets schlagen auf die Vermögensverteilung durch. Während im September 2019 nur 12,5% in Aktien investiert waren, stieg der Anteil im September 2021 auf 17,2%. Dafür waren nur noch 11,3% in Staatsanleihen investiert statt 16,7% zwei Jahre zuvor.