Skandal um Urteilsentwurf erschüttert Washington
Noch nie in der Geschichte des Obersten Gerichtshofs der USA hat es einen so dreisten Verstoß gegen eine als unantastbar geltende Geheimhaltungspflicht gegeben: Der Entwurf eines Urteils, welches das staatlich garantierte Recht jeder Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch aufheben würde, erschien in der Nacht zum Mittwoch plötzlich auf der Website der Nachrichtenorganisation Politico. Dass ein so sensibles Dokument, das zudem von historischer Bedeutung ist, in die Medien lanciert wurde, hat in Washington ebenso viel Erstaunen ausgelöst wie der Inhalt und rabiate Ton des Urteils selbst.
Darin schreibt der konservative Richter Samuel Alito, dass die legendäre Entscheidung „Roe gegen Wade“ aus dem Jahr 1973, die das Recht jeder Frau festschreibt, frei über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden zu dürfen, fundamental falsch sei. Die ins Feld geführten Argumente seien damals „außerordentlich schwach“ gewesen und hätten schädliche Folgen gehabt, so Alito. Nirgendwo stehe in der US-Verfassung, dass Frauen dieses Recht zustehe, folglich „muss Roe gegen Wade aufgehoben werden“, sagt der Richter.
Kaum ein anderes Thema spaltet die USA so tief wie die Abtreibungsdebatte. Alles andere als verwunderlich ist daher, welchen Sturm der Entrüstung der Entwurf hervorrief. Vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich mitten in der Nacht etwa tausend Demonstranten. Deren Sorge gilt der Tatsache, dass in einer informellen Abstimmung vier andere Richter zugestimmt haben, womit die notwendige Mehrheit gegeben wäre, um das bahnbrechende Urteil zu kippen.
Auch meldeten sich Senator Charles Schumer und Nancy Pelosi, die mächtigsten Demokraten im Kongress, prompt zu Wort. Die Entscheidung sei „eine Atrozität und die stärkste Einschränkung von Rechten seit 50 Jahren“, schimpften sie. Die Republikaner hätten bewiesen, dass sie komplett „die Partei von Donald Trump geworden sind“, wetterten die aufgebrachten Parlamentarier. Als Präsident hatte Trump drei erzkonservative Richter für den Supreme Court ernannt und vorausgesagt, dass diese Roe vs. Wade zu Fall bringen würden.
Durchaus akkurat argumentieren die Demokraten, dass Roe gegen Wade nicht unterstelle, dass Abtreibungen in der Verfassung erwähnt würden. Vielmehr gehe es darum, dass unter dem 14. Verfassungszusatz der Staat einer Frau nicht das Recht absprechen darf, über eine so persönliche Angelegenheit selbst zu entscheiden. Die rechtliche Folge von Roe gegen Wade und eines weiteren Urteils 19 Jahre danach bestand darin, dass Abtreibungen bis zur Überlebensfähigkeit des Fötus grundsätzlich erlaubt sind, was einzelne Staaten nicht daran hinderte, Beschränkungen einzuführen. Sollte das 49 Jahre alte Urteil nun gekippt werden, ist aber zu erwarten, dass etwa die Hälfte der Staaten, vor allem im konservativen Süden der USA, Schwangerschaftsabbrüche komplett verbieten werden.
Unterdessen hat die Frage, wie es zu diesem sensationellen Informationsleck kommen konnte, dessen Tragweite mit der Publikation der Pentagon Papers über die US-Kriegsstrategie in Vietnam verglichen wird, wilde Spekulationen ausgelöst. Einige meinen, dass ein liberaler Richter oder einer seiner Rechtsreferenten das Dokument dem Nachrichtenportal zugespielt haben könnte. Die Absicht könne darin bestanden haben, die Gemüter zu erregen und Protestwellen loszutreten, welche einen der konservativen Richter womöglich zum Umdenken bewegen würden.
Andere halten für möglich, dass einer der konservativen Richter oder deren Mitarbeiter das Leck zu verantworten haben. Vielleicht befürchten sie, dass einer ihrer Kollegen vor der endgültigen Abstimmung abtrünnig werden könnte, und wollten damit den Druck erhöhen, an Bord zu bleiben. Auch kursieren Gerüchte, wonach der oberste Richter John Roberts der Drahtzieher war. Das ist einerseits schwer vorstellbar, weil Roberts als Vorkämpfer für die Integrität des Gerichts gilt. Gleichwohl zögert der moderate Republikaner, Roe gegen Wade komplett aufzuheben, und könnte somit dem einen oder anderen Kollegen, der nur zögerlich der konservativen Mehrheit folgt, ins Gewissen reden wollen. Ob das Geheimnis jemals gelüftet wird, ist derzeit genauso unsicher wie die Identität des Informanten selbst.