Sonderkonjunktur von Reedereien am Höhepunkt
Von Carsten Steevens, Hamburg
Die Sonderkonjunktur in der Containerschifffahrt, die kurz nach Beginn der Corona-Pandemie vor gut zwei Jahren eingesetzt hat, wird die letztjährigen Rekordgewinne in der Branche in diesem Jahr noch einmal deutlich in den Schatten stellen. Der Transport und Logistikkonzern A.P. Møller-Mærsk aus Kopenhagen und die ebenfalls börsennotierte Hamburger Reederei Hapag-Lloyd haben ihre jeweiligen Prognosen für das 2022 erwartete operative Ergebnis (Ebit) infolge des zweiten Quartals bereinigt um Restrukturierungs- und Integrationskosten um 7 Mrd. auf rund 31 Mrd. Dollar bzw. um 5 Mrd. auf bis zu 19,5 Mrd. Dollar angehoben. Ein enormer Schub. Zur Einordnung: Nach dem 15. Quartal in Folge mit einer Ergebnisverbesserung verglichen zum Vorjahr erwartet Mærsk inzwischen einen höheren operativen Gewinn als der Volkswagen-Konzern, der als größtes deutsches Industrieunternehmen 2022 ebenfalls auf ein weiteres Rekordergebnis zusteuert.
Die Gewinnsprünge der großen Containerreedereien gehen auf weltweite Störungen der Lieferketten zurück, die länger andauern als erwartet. Deutlich erhöhte Wartezeiten der Schiffe vor Häfen und verstopfte Terminals halten die Transportkapazitäten im Schifffahrtsnetzwerk knapp und die Preise für den Seefrachttransport auf im langjährigen Vergleich sehr hohen Niveaus. Nach wie vor wird infolge der Effizienzverluste in den Lieferketten mehr Tonnage benötigt, um gleiche Ladungsmengen zu befördern.
Auf dem Spotmarkt für kurzfristig benötigte Containertransporte haben sich die Raten auf Asien-Europa-Routen auf 10000 Dollar pro Stahlbox zwischenzeitlich verzehnfacht, inklusive Verschiffungsgarantie sogar verfünfzehnfacht – wobei es in der Branche als offenes Geheimnis gilt, dass veröffentlichte Raten nicht immer den tatsächlichen entsprechen und teilweise noch mehr gezahlt wird, um Ware mit einem Spot-Kontrakt zu verschiffen. Das hohe Ratenniveau nutzen Reedereien derzeit mit Nachdruck, um bei den längerfristigen Kontraktraten hohe Niveaus gemessen an den langjährigen Preisen aus der jüngeren Vergangenheit zu erreichen. Mit offenbar erheblichem Erfolg, wie die aktuellen Quartalsergebnisse zeigen.
Für die Verlader, die über ein Jahrzehnt hinweg von einer starken Position in Verhandlungen mit Reedereien profitierten, die aufgrund von Überkapazitäten hohe Verluste einfuhren und schließlich in eine weitere und mehrjährige Konsolidierungsrunde gehen mussten, stellt sich die Lage seit gut zwei Jahren misslich dar. Eine der Folgen ist, dass kleinere Reedereien wie Pasha aus den USA mit gecharterten Schiffen neue Routen über den Pazifik bedienen können, weil ihnen große Ladungseigner aus dem Einzelhandels- oder E-Commerce-Sektor, die niedrigere Transportpreise wollen, die Auslastung der Schiffe zusichern. Die Verlader, die ihre Waren so günstig wie möglich zu ihren Kunden bringen wollen, haben aktuell auch deshalb schlechte Karten, weil bislang nicht ersichtlich ist, dass die großen Reedereien, die über drei große Allianzen miteinander verbunden sind, Tonnage gezielt zurückhalten, ihre Kapazitäten also künstlich verknappen.
Auch wenn die Ratenexplosion und die Transportverspätungen in den vergangenen Quartalen Wettbewerbshüter auf den Plan rufen und nun die EU-Kommission laut einem Shippingwatch-Bericht die bis 2024 laufende Gruppenfreistellungsverordnung überprüfen will, die den Austausch von Informationen zwischen Reedereien zur Koordinierung von Kapazitäten ermöglicht: Die Branche kann darauf verweisen, dass gegenwärtig „jedes Schiff, das schwimmen kann, fährt“, wie Branchenbeobachter erklären. Die Rate der Schiffsverschrottungen tendiere auch 2022 gegen null.
Zwar hat sich der Anteil der zehn größten Containerschifffahrtsgesellschaften an den Transportkapazitäten infolge der Branchenkonsolidierung bis 2018 von rund 60 auf mehr als 80% erhöht. Dass sich damit der Wettbewerb weltweit eingeschränkt habe oder in Teilen nicht mehr funktioniere, bestreiten aber nicht nur die Branchenführer. Eine weitere größere Bereinigung in der Containerschifffahrt ist nicht absehbar, allenfalls sind Übernahmen kleiner Nischenanbieter zu beobachten. Indes gibt es Indizien, dass die Sonderkonjunktur für die Branche, die kurz nach Beginn der Corona-Pandemie mit der Verschiebung der Endkundennachfrage von Dienstleistungen zu Gütern ihren Anfang nahm, ihren Höhepunkt erreicht hat.
Sinkende Spotraten, das verstärkte Dringen der Reedereien auf längerfristige Kontrakte sowie die Ausweitung der Transportkapazitäten, die sich mit Auslieferungen bestellter Schiffe in den beiden kommenden Jahren sowie in Anbetracht einer aktuell auf rund 28% der weltweiten Bestandsflotte gestiegenen Orderbuchquote abzeichnet, deuten auf ein Plateau hin, von dem aus die Transportpreise sinken dürften. Mærsk erklärte gerade, ab dem vierten Quartal mit einer graduellen Normalisierung zu rechnen. Was das genau bedeutet? Die Reedereien dürften, was das langfristige Ratenniveau angeht, an einem „New Normal“ interessiert sein. Mit der Ausweitung der Geschäfte an Land, Luftfrachtaktivitäten oder verstärkten Terminal-Engagements zeigen auch Anpassungen an einzelnen Geschäftsmodellen, dass sich die Unternehmen nicht mehr in einer Krise wie im Jahrzehnt bis 2020 wiederfinden wollen.