Spanien ist auch konjunkturell Europameister
Auch konjunkturell ist Spanien Europameister
Die Wirtschaft verzeichnet solide Wachstumsraten, angetrieben vom Arbeitsmarkt und Tourismus. Doch es gibt auch Schwachstellen.
Von Thilo Schäfer, Madrid
Am Montag empfing Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez die Spieler des frischgebackenen Fußball-Europameisters in seinem Amtssitz in Madrid. Zwei Tage danach zeigte sich der Regierungschef wahrhaft beflügelt vom Erfolg der Nationalmannschaft bei der EM in Deutschland. „Spanien steht heute an der Spitze des Wirtschaftswachstums und schafft fast die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze in der EU“, erklärte der Sozialist am Mittwoch im Unterhaus. Dann dankte er den Kickern von La Roja sowie Tennisstar Carlos Alcaraz für dessen Triumph ebenfalls am Sonntag in Wimbledon und rief aus: „Spanien erlebt gerade einen seiner besten Momente in der Geschichte.“
Angesichts der Begeisterung im Lande über den EM-Titel mag man Sánchez ein bisschen Pathos nachsehen. Doch die Zahlen unterstützen den Optimismus. Im Rahmen der Haushaltsplanung präsentierte Wirtschaftsminister Carlos Cuerpo am Dienstag eine verbesserte Wachstumsprognose. Statt wie bisher angenommen um 2,0% soll das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,4% steigen und bis 2027 auf einem Niveau um die 2% verharren. Damit liegt die spanische Linksregierung im Rahmen der Schätzungen der meisten Volkswirte. Am Dienstag bestätigte der Internationale Währungsfonds seinen Ausblick für Spanien in 2024 bei ebenfalls 2,4%, mehr als die anderen großen Volkswirtschaften in Europa. Spanien sei ein „Lichtblick“, erklärte der IWF und hätte dabei auch Europameister sagen können.
„Keynes ist aktueller denn je“
Über die reinen Konjunkturzahlen hinaus legt Minister Cuerpo Wert darauf, dass es im Gegensatz zu früheren Erholungsphasen diesmal ein „robustes und ausgeglichenes Wachstum“ sei. Auf einem Treffen mit dem Verein der Auslandskorrespondenten am Dienstag in Madrid hob der Nachfolger von Nadia Calviño drei Faktoren hervor. Der Arbeitsmarkt sei sehr gut durch die Dauerkrise von Pandemie, Krieg und Preisexplosion gekommen, zur Überraschung der meisten Volkswirte. Mit 21,2 Millionen gibt es so viele Menschen mit bezahlter Tätigkeit wie noch nie zuvor. Die Zeitarbeit ist seit der Arbeitsmarktreform der Linksregierung deutlich gesunken und die Qualität der Arbeitsplätze insgesamt gestiegen. Mit einer Erwerbslosenquote von 12,3% bekleidet Spanien zwar einen Spitzenplatz in Europa, doch die Tendenz ist rückläufig. Laut den Prognosen des Ministeriums soll die Quote bis 2027 auf unter 9% sinken.
Der zweite Wachstumsfaktor ist der Außenhandel, getrieben vom Tourismus, der sich anschickt, den Besucherrekord von 2023 zu brechen. „Es ist aber nicht nur Tourismus, sondern es sind auch Exporte anderer Dienstleistungen und Technologie“, versicherte Cuerpo. Schließlich haben sich die Investitionen als letzte tragende Wachstumssäule endlich von der Pandemie erholt. Die Regierung hofft, mehr private Investoren anzuziehen, und setzt dabei auf die Milliarden aus dem „Next Generation EU“-Fonds. Madrid steckt sehr viel Geld in die Digitalisierung und die Energiewende, wo man sich als Vorreiter in Europa sieht. „Keynes ist aktueller denn je“, proklamierte Sánchez im Parlament.
Die robuste Konjunktur beschert gute Steuereinnahmen, weshalb man trotz Anhebung der Ausgaben die Haushaltskonsolidierung forcieren will. Finanzministerin María Jesús Montero sieht nach einem Staatsdefizit von 3,6% des BIP im letzten Jahr für dieses Jahr einen Wert von 3% vor, der bis 2027 auf 1,8% fallen soll. Die Staatsverschuldung soll von derzeit gut 107% des BIP bis 2027 auf unter 100% sinken. Die neuen europäischen Fiskalregeln werden Montero allerdings Spielraum bei den Ausgaben nehmen. Doch feiert man in Madrid neben dem EM-Titel auch die Tatsache, dass die Europäische Kommission vor Tagen Spanien beim Defizitverfahren ausgenommen hat, im Gegensatz zum Halbfinalgegner Frankreich.
Doch der Haushaltsplan, der im September im Parlament eingereicht wird, offenbart eine der Schwächen der Minderheitskoalition der Sozialisten von Sánchez und dem Linksbündnis Sumar. Die Zustimmung im Unterhaus ist nach gegenwärtigem Stand alles andere als sicher. Die Regierung ringt vor allem um die Stimmen der katalanischen Separatisten, die für eine Mehrheit unumgänglich sind. Diese treiben den Preis und verlangen eine eigene Finanzierung für Katalonien, bis zur völligen Entkopplung vom Rest des Landes.
Zankapfel Arbeitszeit
Die prekären Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus erschweren auch andere Reformprojekte, etwa des Rentensystems oder am Jobmarkt. Hinzu kommt, dass sich die Stimmung zwischen Regierung und Arbeitgeberverbänden stark eingetrübt hat, nachdem man zusammen mit den Gewerkschaften in den letzten Jahren mehrere wirksame Maßnahmen auf den Weg gebracht hatte. Die Unternehmer laufen gerade Sturm gegen die geplante Verkürzung der Arbeitszeit auf 37,5 Wochenstunden. Die BBVA-Analysten mahnen, dass dadurch 1% der Jobs verloren gegen könnte. Minister Cuerpo versicherte, dass ihm auf Auslandsreisen Anleger, Analysten und Unternehmer keine Bedenken wegen der politischen Instabilität entgegenbrächten, anders als 2017, als die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien die Märkte in Atem hielten. Risiken sieht Cuerpo vornehmlich im Ausland, mit den verschiedenen Brandherden der Welt und drohenden Handelskriegen. Die Euphorie über den EM-Sieg sei in den Wachstumsprognosen bereits enthalten, scherzte Cuerpo gegenüber den Korrespondenten: „Der EM-Effekt, der Wimbledon-Effekt, der Taylor-Swift-Effekt, und wir erwarten einen fantastischen Effekt durch die Olympischen Spiele.“