Madrid

Spanien will seine Geheimnisse lüften

Die Sánchez-Regierung hat eine Reform des aus der Franco-Diktatur stammenden Gesetzes für staatliche Verschlusssachen angestoßen. Experten erwarten von der Freigabe der Dokumente Aufschlüsse über Kapitel der letzten Jahrzehnte, wie den Putschversuch von 1981. Doch die Enttäuschung über die langen Geheimhaltungsfristen ist groß.

Spanien will seine Geheimnisse lüften

Auch gut ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Francisco Franco ist Spanien mit der Vergangenheitsbewältigung der jüngsten Ge­schich­te beschäftigt. Die Überreste des Diktators wurden vor drei Jahren aus seiner monumentalen Grabstätte in eine kleine Familiengruft überführt, und aus dem „Tal der Gefallenen“ soll nun eine Gedenkstätte für die Opfer des Regimes werden. Jetzt haben sich die Sozialisten von Ministerpräsident Pedro Sánchez ein weiteres wichtiges Überbleibsel aus den Zeiten der Diktatur vorgeknöpft. Das Gesetz zur Geheimhaltung von staatlichen Verschlusssachen stammt von 1968 und sieht eine unbefristete Verwahrung ohne Zugang der Öffentlichkeit vor. Anfang August segnete die Regierung einen Entwurf für ein neues Gesetz ab, das erstmals die automatische Freigabe von Dokumenten vorsieht, die nach vier Kategorien gestaffelt ist. So werden als „streng geheim“ eingestufte Informationen erst nach 50 Jahren freigegeben, wobei eine Verlängerung von 15 Jahren möglich ist. Für „geheime“ Dokumente gelten Fristen von 40 plus 10 Jahren. Geringer eingestufte Staatsdokumente können nach vier bis zehn Jahren eingesehen werden.

Nach der großen Erwartungshaltung an die Reform war die Enttäuschung über den Entwurf bei Geschichtswissenschaftlern, Aktivisten und fast allen anderen Parteien weit verbreitet. Die Frist von 50 Jahren für streng geheime Angelegenheiten gilt vielen als viel zu lang. Andere Länder wie Deutschland oder Großbritannien halten ihre Staatsgeheimnisse nur 30 Jahre unter Verschluss. Noch mehr Kritik gab es für die Tatsache, dass das neue Gesetz keine Rückwirkung hat. Die Regierung erklärte dies damit, dass die „immense Menge“ von Dokumenten, die seit 1968 als geheim eingestuft wurden, eine sofortige automatische Freigabe praktisch unmöglich mache. Aber Personen „mit berechtigtem Interesse“ können bestimmte Akten anfordern, sofern diese nicht die Staatssicherheit gefährden. Im Zweifelsfall hat der Oberste Gerichtshof das letzte Wort. Das Problem ist nur, dass Spanien im Gegensatz zu anderen Ländern kein Verzeichnis dieser geheimen Archive angelegt hat. Es ist halt schwierig, bestimmte Dokumente anzufordern, wenn man von deren Existenz gar keine Kenntnis haben kann.

Die Historiker erwarten sich von den Geheimakten viele wichtige Aufschlüsse über diverse Kapitel der jüngsten spanischen Geschichte, über die es bislang vor allem mehr oder weniger fundierte Spekulationen gibt. So gilt das Interesse dem Ende der Diktatur nach dem Tod Francos 1975 und dem schwierigen Übergang zur Demokratie. Der Putschversuch vom 23. Februar 1981, als Polizeibeamte der Guardia Civil das Parlament in Madrid stürmten und die Abgeordneten samt Regierung stundenlang in Geiselhaft hielten, wirft heute noch sehr viele Fragen auf. Wer genau war in das Komplott involviert, und was geschah in den Verhandlungen mit den Putschisten, die nach der Fernsehansprache von König Juan Carlos aufgaben? Auch über die illegale Bekämpfung der Terrorgruppe ETA, bei der im Auftrag der Regierung gemordet wurde, könnte es in den Archiven noch bislang unbekannte Informationen geben. Die komplizierten, von ständigen Spannungen geprägten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarn Marokko und Algerien ließen sich nach Einsicht der Geheimakten eventuell auch besser verstehen.

Für die Opposition ist der Vorstoß der Sánchez-Regierung unzureichend. Die Konservativen beschränken ihren Protest vor allem darauf, dass sie über eine so staatstragende Reform vorab nicht informiert oder gar involviert wurden. Doch selbst beim Koalitionspartner der Sozialisten von Sánchez, dem Linksbündnis Unidas Podemos, ist der Unmut zu spüren. Freilich eher unter den Abgeordneten, während sich die fünf Minister am Kabinettstisch zurückhalten. Eine gewachsene Demokratie wie Spanien müsse mehr Transparenz aushalten können, so die verbreitete Meinung im linken Spektrum. Der Kritik schließen sich auch die baskischen Nationalisten an. Die Minderheitsregierung von Sánchez ist auf die Zustimmung dieser Parteien im Parlament angewiesen. Sollte das Gesetz am Ende durchfallen, blieben viele Fragen vorerst weiter offen.

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