Tony kommt auf Touren
Wer in China mit neuer Frisur oder feschem Haarschnitt am Arbeitsplatz erscheint, bekommt von den Kollegen Folgendes zugerufen: „ni de Lifashi-Tony bu cuo a!“ Das heißt so viel wie „Dein Friseur-Tony hat’s echt drauf“. Tony ist zum geflügelten Wort für Angestellte in großstädtischen Haarsalons geworden. Zur Vermarktungsstrategie gehört eine englische Namensgebung für Haarstylisten, auch wenn sie meist kein Englisch sprechen. Das Handwerk ist fest in männlicher Hand, das Gros der Umsätze generieren anspruchsvolle weibliche Kunden, die einen gescheiten Tony brauchen, um wirkungsvoll herüberzukommen.
Der typische Salon-Angestellte ist zwischen 20 und 30 Jahre jung, stammt aus der Provinz und versucht dem chinesischen Traum vom sozialen Aufstieg in der Großstadt näherzukommen. Überdurchschnittlich viele wählen den eingängig und flott wirkenden Namen Tony, ganz so wie man in Deutschland gefühlt einen Überschussvorrat an Kevins und Jennys vorfindet. Auf Platz zwei liegt übrigens Jason. Landet man doch einmal bei einer Friseuse, heißt sie ziemlich sicher Cindy oder Amy.
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Im traditionellen Mondkalender wurde kürzlich der zweite Tag des zweiten Monats begangen, ein nicht nur natur- sondern auch frisurenrelevantes Datum. An diesem als Long Tai Tou bezeichneten Tag pflegt der unter anderem für Wetter- und Ernteangelegenheiten zuständige chinesische Drache aus dem Winterschlaf zu erwachen und versucht den mächtigen Kopf zu heben. In China geht man dann zum Friseur. So trägt das Volk mit einem kollektiven Haarschnitt dazu bei, den Kopf leichter zu machen und dem Drachen auf die Sprünge zu helfen. So gesehen eine mythologisch-logische Aktion.
In den vorangehenden Wochen allerdings ist das Haarschneiden einem alten Aberglauben zufolge tabu. Dann nämlich könnte „Jiu Jiu“ – das ist die Bezeichnung für einen Onkel mütterlicherseits – schweres Unglück widerfahren. Halten wir also fest: Wer kein Interesse daran hat, einen Bruder der eigenen Mutter schicksalhaft ins Jenseits zu befördern, macht zwischen dem Neujahrsfest und Long Tai Tou einen weiten Bogen um das Thema Haarschnitt.
In Schanghais haarschneidendem Gewerbe hat man nach längerer Durststrecke wieder alle Hände voll zu tun. Das Gedränge ist derzeit besonders ausgeprägt, weil die Szene in der Pandemie mächtig ausgedünnt wurde. Das Gewerbe mit unvermeidlich engem Personenkontakt wurde mit Restriktionen überschüttet und hat insbesondere im Schanghaier Lockdown-Marathon heftig gelitten. Rund ein Viertel der Läden streckte irgendwann die Scheren.
Die Herren der Schöpfung finden in China mittlerweile auch echte Barber Shops vor. Was in den USA und Europa als Hort des Auslebens urbaner Männlichkeit mit der Pflege von Hipster-Bärten und gegenseitiger Respektbekundung für Tätowierungen gedacht ist, kommt in Schanghai eher zartschaumgebremst herüber. Die wenigsten Chinesen verfügen über eine imposante Gesichtsbehaarung, geschweige denn den Mut zum sichtbaren Tattoo, für das sie ihre Mütter endlos ohrfeigen würde. Vor den Läden parken auch keine schweren Motorräder, sondern nur kleine Elektro-Scooter.
Im angesagten Stadtteil Jing’An macht gerade ein neuer Barber Shop auf. Das Interieur ist vorsichtig auf rauen Chic getrimmt. Es finden sich ein paar für ungezähmte männliche Individualität stehende Ornamente von der Jack-Daniels-Reklame bis zur etwas schüchtern angebrachten Harley-Davidson-Plakette. Spätestens bei der Begrüßung durch ein Jüngelchen mit erdbeerrosa gefärbter K-Pop-Frisur, der sich nicht Tony, sondern Peter nennt, fällt die Barber-Shop-Maskulinität dann wie ein Soufflé in sich zusammen. Peter verträgt kein scharfes Essen, obwohl er aus der dafür bekannten Provinz Hunan kommt. Er hat seinen Namen der Kinderbuch-Figur Peter Pan entlehnt, noch nie einen Jack Daniels gekippt und kann auch kein Englisch. Das macht aber nichts, denn er kann richtig gut Haare schneiden und der Kopf fühlt sich nun wieder wunderbar leicht an.