Unterm Strich

Virusgeschädigte HV-Kultur

Da der Gesetzgeber nicht handelt, sollten die Unternehmen bei den abermals virtuellen Hauptversammlungen Best Practice etablieren

Virusgeschädigte HV-Kultur

Stell Dir vor, es ist Hauptversammlung, und niemand geht hin! Mit diesem Szenario werden sich börsennotierte Gesellschaften und deren Aktionäre auch für die kommende HV-Saison anfreunden müssen – jedenfalls was die physische Teilnahme angeht. Zwar hat der Gesetzgeber Anfang September mit der Verlängerung der einschlägigen Regelungen des Covid-19-Gesetzes bis 31. August 2022 die Frage der virtuellen oder Präsenz-HV in das Ermessen der Verwaltung gestellt. Doch welcher Aufsichtsrat und Vorstand würde es aktuell angesichts der vierten Pandemiewelle wagen können, die Aktionäre zur Präsenzversammlung einzuladen?

Virtuell weniger Rechte

Daran ändert auch die am 25. November auslaufende epidemische Notlage nichts, denn das von den Abgeordneten der künftigen Ampel-Koalition beschlossene Infektionsschutzgesetz wird Unternehmensverwaltungen faktisch zur Entscheidung für virtuelle HVs zwingen. Die Anfechtung von HV-Beschlüssen wegen Ermessensfehlern ist zwar weiterhin ausgeschlossen, doch nicht bei vorsätzlich fehlerhaften Entscheidungen. Und eine Verwaltung, die sich angesichts der Pandemielage nicht für die virtuelle Variante entscheidet, wird sich dem Vorwurf einer vorsätzlich fehlerhaften Entscheidung schwer entziehen können. So weit, so schlecht, denn die virtuellen Aktionärstreffen der Jahre 2020 und 2021 haben gezeigt, dass die Aktionärsrechte in der virtuellen HV-Welt gehörig unter die Räder gekommen sind. Dabei war das deutsche Aktienrecht hinsichtlich der HV schon vor Corona dringend reformbedürftig, da es keine Anreize zu einer aktionärsfreundlichen und effizienten Abwicklung der HV setzt und insofern international als rückständig gilt. Die bereits bestehenden Möglichkeiten zur Ausübung von Aktionärsrechten im Wege elektronischer Kommunikation wurden aus Sorge vor Anfechtungsklagen begründenden technischen Schwierigkeiten in Vor-Corona-Zeiten allenfalls zurückhaltend genutzt.

Die Allokation der kostbaren Zeit in der HV werde vom „Primärziel einer Minimierung von Anfechtungsrisiken“ dominiert, beklagt zu Recht die wissenschaftliche Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR), der so namhafte Experten wie Peter Hommelhoff, Klaus J. Hopt oder Katja Langenbucher angehören, in einem Reformpapier. Berichte der Verwaltung verwendeten zu viel Zeit auf teils eher formale Inhalte. Bei der Fragenbeantwortung werde bewusst jegliche Spontanität unterdrückt. Antworten auf Fragen würden im Back Office vorbereitet und häufig aufgeweicht, um potenzielle Fehler und Ungenauigkeiten auszuschließen. Völlig belanglose oder nebensächliche Fragen würden mit der gleichen Intensität beantwortet wie berechtigte Fragen zu Strategie, Zukunftsfähigkeit oder Versäumnissen der Vergangenheit. Dadurch werde die HV in die Länge gezogen, statt die Beantwortung von irrelevanten Fragen unter Berufung auf die fehlende Erforderlichkeit zur sachgemäßen Beurteilung der Tagesordnung nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG zu verweigern. Entsprechend erstaune es nicht, dass dieses von den Unternehmen gebotene Forum auch genutzt und von einzelnen Aktionären faktisch zur Selbstdarstellung missbraucht werde, so die Wissenschaftler.

Leider hat es die noch amtierende Bundesregierung in diesem Jahr versäumt, durch eine Reform des Aktiengesetzes die Grundlage für eine zukunftsfähige HV zu schaffen, die unabhängig vom Format die Aktionärsrechte garantiert und zugleich den Anforderungen eines europäischen Kapitalmarktes ge­recht würde.

An guten Vorschlägen hierzu fehlte es nicht, wie erst dieser Tage bei einem Roundtable des Corporate Governance Institute der Frankfurt School of Finance & Management mit Experten aus Justizministerium, Wissenschaft und Praxis deutlich wurde. Doch leider ist zu befürchten, dass die neue Bundesregierung angesichts der Herausforderungen durch Pandemie, Digitalisierung und Klimaschutz andere Gesetzesvorhaben priorisieren wird als eine umfängliche Reform der Hauptversammlung, und folglich die bis August 2022 geltende Sonderregelung abermals verlängert werden dürfte.

Wo kein Wille, da kein Weg

Es liegt damit umso mehr an den börsennotierten Unternehmen, den Rechten ihrer Aktionäre auch in der virtuellen Welt Geltung zu verschaffen und die Kommunikation mit ihnen aus eigenem Antrieb aktionärsfreundlich zu gestalten. Doch daran hapert es. So hat nach Erhebung des Fondsverbands BVI nur ein Drittel der im H-Dax vertretenen 160 Aktiengesellschaften in der zurückliegenden HV-Saison die Reden des Vorstands vorab veröffentlicht. Und nur 25 der 160 Unternehmen boten ihren Aktionären die Möglichkeit, vor der HV Sprach- oder Videobotschaften auf ihrer Internetseite oder einem separaten Aktionärsportal zu veröffentlichen, ohne dass diese in der HV berücksichtigt wurden. Die Nachfragemöglichkeit in der HV zu vorab schriftlich eingereichten Fragen gewährten nur neun Unternehmen.

Dass sich in der neuen HV-Saison ab Februar 2022 viel ändert, ist nicht zu erwarten, wenn Unternehmen wie Siemens Energy ihren Aktionären ankündigen, dass eine virtuelle HV mit umfassenden interaktiven Teilnahmerechten leider aufgrund fehlenden gesetzlichen Rahmens nicht „rechtssicher“ durchzuführen sei (vgl. BZ vom 7. Oktober). Das Verschanzen hinter der angeblich fehlenden Rechtssicherheit lässt sich auf den Nenner bringen: Wo kein Wille, da kein Weg.

Andere Dax-Unternehmen wie beispielsweise die Deutsche Bank haben schon in der zurückliegenden HV-Saison gezeigt, wie die – auch interaktive – Einbindung der Aktionäre möglich ist. Die börsennotierten Unternehmen in Deutschland sollten nicht auf den Gesetzgeber warten, sondern Best Practice in der Kapitalmarktkommunikation etablieren. Die HV ist ein zentrales Element dieser Kommunikation, egal ob als Präsenzveranstaltung, virtuell oder hybrid.

c.doering@boersen-zeitung.de