Tokio

Vom Attentäter zum „Helden“

Das Attentat auf Shinzo Abe wirkt in Japan nach – auch politisch. Der 42-jährige Täter wird mitunter als vermeintlicher „Held“ verehrt.

Vom Attentäter zum „Helden“

Rund ein halbes Jahr nach dem Attentat auf Shinzo Abe hat die Staatsanwaltschaft Mordanklage gegen Tetsuya Yamagami erhoben. Ihm droht die Todesstrafe. Laut der Polizei gestand der Angeklagte, den Ex-Regierungschef mit einer selbstgebauten Waffe niedergeschossen zu haben. Seine Tat begründete Yamagami damit, dass Abe die südkoreanische Vereinigungskirche unterstützt habe – seine Mutter hatte dieser Kirche ihr Vermögen gespendet und die Familie dadurch in Armut gestürzt.

Parallel zur Anklage läuft in japanischen Kinos der Spielfilm „Revolution+1“, der in dieser Woche auch seine Deutschland-Premiere erlebt. Der Film beginnt mit Original-Fernsehaufnahmen, wie Abe auf einer Straße in der Stadt Nara eine Wahlkampfrede hält und der Attentäter sich ihm von hinten nähert. Die fiktive Biografie des Protagonisten gleicht der des echten Mörders bis zum ähnlich klingenden Namen: Die Hauptfigur heißt Kawakami, sein Vater beging Selbstmord und seine Mutter schloss sich der Vereinigungskirche an.

Der Regisseur, ein verurteiltes Ex-Mitglied der terroristischen „Japanischen Roten Armee“ (JRA), zeigt den Protagonisten als sympathische Person. Diese Sichtweise ist in Japan weit verbreitet. Schon zwei Wochen nach dem Mordanschlag erschien ein Artikel über die „Yamagami Girls“, junge Frauen, die sich spontan in den Täter verliebt hatten und ihn heiraten wollten. „Der Anschlag hat Bewunderung für einen halbselbstmörderischen Rächer geweckt“, erklärte die Verfasserin Tamaki Kawasaki. Auf Twitter kursiert der Hashtag #Yamagami Resshi, das Wort für einen „Helden“, der für Japan gekämpft und sich geopfert hat. Der bekannte Soziologe Shinji Miyadai wiederum bezeichnete das Attentat als eine Form von „Selbsthilfe in einem ausgelaugten Land“.

Kurz nach der Tat erschien eine Online-Petition, die eine Strafminderung für Yamagami forderte. Die Initiatorin war eine Frau in den Fünfzigern, die nach eigenen Angaben zur „zweiten Generation“ der Vereinigungskirche gehört, also ein Kind von Sektengläubigen ist. Sie hege wegen dessen harter Erziehung „warme Gefühle“ für den Täter, der als „ernsthafter, fleißiger Mensch rehabilitiert“ werden könne. Bisher kamen über 13 000 Unterschriften zusammen. Unterstützer aus dem ganzen Land schickten ihm außer Geld so viele Geschenke und Lebensmittel, dass es im Gefängnis keinen Platz mehr dafür gibt.

Im September berichtete das Boulevard-Magazin „Spa!“ in einer Titelgeschichte über den Kult der Heldenverehrung um den 42-jährigen Attentäter. „Dieser Gott der Unterschicht von Japan erweckt Sympathie bei denjenigen, die auch Armut, Religion, Einsamkeit erlebt haben und zerstörerische Eltern hatten“, schrieb das Magazin. Viele Online-Kommentare verteidigten das Attentat und lobten Yamagami dafür, dass er die Aufmerksamkeit auf die wenig bekannten Verbindungen zwischen der Regierungspartei LDP und der Vereinigungskirche gelenkt habe. Angehörige der Kirche arbeiteten jahrzehntelang als freiwillige Wahlhelfer für viele LDP-Abgeordnete, während die Behörden die aggressiven Spendenpraktiken ignorierten. „Dank Yamagami ist die Dunkelheit in diesem Land ans Licht gebracht worden“, kommentierte ein Leser.

Unabhängig davon, ob Yamagami aus persönlicher Rache oder politischen Motiven gehandelt hat: Sein Attentat hat eine ungeahnt starke Wirkung entfaltet. Bis zu dem Anschlag hatte sich außer einigen Anwälten von Angehörigen niemand für die dubiosen Praktiken der Sekte interessiert. Doch die häufigste Suchanfrage bei Google Japan von 2022 lautete: „Was ist die Vereinigungskirche?“ Mutmaßliche Ex-Mitglieder berichteten im Fernsehen und im Auslandskorrespondentenklub über die Psychotricks beim Spendeneintreiben. Die Enthüllungen erzeugten eine hohe und anhaltende Unzufriedenheit mit LDP-Chef und Premierminister Fumio Kishida, obwohl er mehrmals energisch handelte. Erst bildete er sein Kabinett um, dann entließ er drei Minister mit Verbindungen zur Kirche. Ein neues Gesetz verbietet das Erpressen von Spenden, Opfer dürfen das Geld zurückfordern, ein Verbot der Kirche gilt als möglich – alles direkte Folgen des Attentats.