Vom Ehrgeiz zerfressen
Wenn man die angrenzenden Großstädte Yokohama, Kawasaki, Chiba und Saitama einbezieht, dann bilden die 37 Millionen Bewohner der Bucht von Tokio die größte Metropole der Welt. Doch Japans Hauptstadt, vom Ehrgeiz zerfressen, will mehr sein. Gouverneurin Yuriko Koike träumt von einem Tokio mit „weltführender“ Bedeutung. Den Niedergang von Hongkong durch Chinas Repressionen betrachtet sie als Chance für ihre Ambitionen.
Ziel Nummer 1: Tokio soll Hongkong als „Financial Hub“ ablösen. Das Wort „Hub“ ist ein Lieblingsausdruck der Medien, der nach Globalisierung klingt und Wichtigkeit suggeriert. Politiker greifen das Wort daher begierig auf. Vor ein paar Tagen veröffentlichte Koike ihre „Vision 2.0“ für die „Global Financial City Tokyo“, wobei es sich nach offiziellen Angaben um eine überarbeitete Version der „Global Financial City Tokyo“ vom November 2017 handelt. Der Hub 1.0 legte den Fokus darauf, „attraktive Finanzplayer anzulocken“. Der Hub 2.0 addiert die Schwerpunkte „grün“ und „digital“ – und zwar „im Lichte der Veränderungen der internationalen Finanzumgebung“. Doch überzeugende Anreize für einen Umzug nach Tokio fehlen im alten wie im neuen Konzept.
Ähnlich wolkig kommt Ziel Nummer 2 daher: Tokio soll sich zum „Hub“ für den Kunsthandel entwickeln. Laut dem Global Art Report von UBS und Art Basel generiert Japan nur 3% des Weltumsatzes im Handel mit Kunstwerken. Von diesem Kuchen will sich Tokio ein größeres Stück abschneiden. Ausländische Galerien und Messen dürfen seit Kurzem auf Plätzen oder in Gebäuden der Hauptstadt, die zuvor als zollfreie Zone definiert wurden, ihre Kunst zeigen. Dadurch können sie mit Werken handeln, ohne japanische Gebühren und Steuern zu zahlen, solange die Kunst nicht aus der Zone nach Japan eingeführt wird. Doch mehr Lockmittel sind Koike und ihren Mitstreitern bisher nicht eingefallen. Daher wird Tokio laut Händlern Hongkong den Rang als Asiens Kunstzentrum kaum ablaufen können.
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Woran hapert es? Ein gewichtiger Grund ist die ungenügende Bereitschaft, einschnürende Regularien an die notwendige Flexibilität eines Hubs anzupassen. Das Manko konnten die Tokioter vergangene Woche beobachten. Da stach ein Japaner in einer U-Bahn wahllos auf Passagiere ein, verschüttete eine Flüssigkeit und zündete sie an. Der Angreifer verletzte 17 Menschen, einen davon schwer. Handyvideos in sozialen Medien zeigten Passagiere, die auf der Flucht vor dem Amokläufer aus den Zugfenstern kletterten. Die Bilder schockierten die Nation, die darauf vertraut, dass ihre Infrastruktur perfekt funktioniert. Schon Sechsjährige fahren allein mit der U- oder S-Bahn zur Schule.
Als besonders irritierend wurde das Verhalten des Bahnpersonals empfunden. Ein Passagier hatte den Nothalteknopf gedrückt, als die Attacke begann, und die U-Bahn dabei in einem Bahnhof zum Stehen gebracht. Der Zugführer versuchte über die Sprechstelle in dem Waggon herauszufinden, welche Notsituation sich dort abspielte, aber niemand antwortete ihm. Darauf hielt er die Waggontüren geschlossen, weil sie infolge des Notstopps nicht exakt auf die automatischen Türen in der 1,30 Meter hohen Absperrwand an der Bahnsteigkante ausgerichtet waren. Hätte der Zugführer nach eigenem Ermessen gehandelt, dann hätte er die Türen vermutlich geöffnet. Aber in diesem Fall verlangte die Vorschrift das Gegenteil, so dass sich die Fliehenden durch die Fenster quetschen mussten.
Die Situation war typisch für Japan: Dort neigen Organisationen und Unternehmen dazu, die Eigeninitiative ihrer Mitarbeiter mit genauen Bedienungsanleitungen zu ersticken. Es bedurfte dieses Amoklaufes, damit das Verkehrsministerium und die Bahnbetreiber die Kehrseite der relativ neuen Absperrwände wahrnahmen. Sie stoppen eben nicht nur springende Selbstmörder oder fallende Betrunkene, sondern in der umgekehrten Richtung auch fliehende Passagiere. Die Vorschrift wurde inzwischen geändert. Aber der Vorfall legte genau die staatliche Überregulierung und die kurzsichtige Denkweise offen, die auch den Aufstieg von Tokio zum globalen Finanz- und Kunst-„Hub“ bremst.