LEITARTIKEL

Von Tiefschlag bis Sargnagel

Das "annus horribilis" für den stationären Einzelhandel in Deutschland geht zu Ende. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Der zweite harte Lockdown, der sich bis in den Januar hineinzieht, ist für die betroffenen Unternehmen im besten Fall ein...

Von Tiefschlag bis Sargnagel

Das “annus horribilis” für den stationären Einzelhandel in Deutschland geht zu Ende. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Der zweite harte Lockdown, der sich bis in den Januar hineinzieht, ist für die betroffenen Unternehmen im besten Fall ein weiterer Tiefschlag, im ungünstigsten der letzte Sargnagel. Vom Zwang zur Schließung sind alle Anbieter betroffen, die nicht Güter des täglichen Bedarfs verkaufen. Darunter fallen viele Händler, für die das Weihnachtsgeschäft wesentliche Bedeutung für das Jahresergebnis hat, u. a. Spielzeugläden, Geschäfte für Uhren und Schmuck, Parfümerien sowie Lederwaren-Shops. Dabei fielen die Umsätze schon in den Wochen vor dem 16. Dezember, dem ersten Tag des harten Lockdowns, schwach aus. Unzählige Betriebe stehen nun mit dem Rücken zur Wand. Dabei wird aber oft verdrängt, dass schon vor dem Ausbruch der Coronakrise viele stationäre Händler – oft aufgrund der Online-Konkurrenz – kaum noch kostendeckend arbeiteten.Hier zeigt sich das große Dilemma der staatlichen Hilfen: Viel Geld fließt in Unternehmen, deren Existenz schon vor der Pandemie gefährdet war und die wohl auch ohne Lockdown auf kurze bis mittlere Sicht pleitegegangen wären; sie konnten dank der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, Überbrückungshilfen sowie sonstiger öffentlicher Kredite und Zuschüsse das Unvermeidliche hinauszögern. Doch die Hilfsprogramme werden ebenso auslaufen wie die staatlichen Maßnahmen, die den Konsum beleben sollen – etwa die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes -, denn auf Dauer verkraftet auch die wohlhabendste Volkswirtschaft nicht Mehrausgaben in dreistelliger Milliardenhöhe bei gleichzeitig stagnierenden oder schrumpfenden Einnahmen aufgrund sinkender Wirtschaftsleistung.Nach der Entscheidung von Bund und Ländern zum zweiten harten Lockdown in diesem Jahr hat der Handelsverband Deutschland seine Jahresprognose nach unten korrigiert. Der HDE sagt nun für 2020 stabile Einzelhandelsumsätze von 543 Mrd. Euro (- 0,1 %) voraus. Also alles halb so wild? Mitnichten, denn wird zwischen stationärem Handel und E-Commerce differenziert, wird schnell klar, dass es große Gewinner und klare Verlierer gibt. So prognostiziert der HDE dem Online-Handel ein Wachstum von 21,5 % oder fast 13 Mrd. auf 72 Mrd. Euro. Mithin würden die Erlöse der physischen Geschäfte um rund 13 Mrd. Euro oder 2,7 % auf 471 Mrd. Euro sinken. Deutlicher wird die dramatische Lage, wenn nur die stationären Händler betrachtet werden, die vom harten Lockdown betroffen sind – die also keine Güter des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel oder Medikamente vertreiben. Ihnen sagt der HDE einen Umsatzeinbruch von 19 % auf unter 153 Mrd. Euro voraus.”Insbesondere im Modehandel stehen viele Betriebe kurz vor der Insolvenz”, warnt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des HDE. Die Textilanbieter mit physischen Geschäften belastet nicht nur die starke Online-Konkurrenz, sondern auch die verbreitete Homeoffice-Tätigkeit. Da der persönliche Kontakt zu Kollegen, Lieferanten und Kunden fehlt, wird seit dem Frühjahr deutlich weniger Wert auf das Outfit gelegt. Das schlägt sich z. B. in den Erlösen aus Anzug- und Kostümverkäufen nieder. Voraussetzung für eine Belebung des Geschäfts wäre ein Ende jeglichen Lockdowns sowie der Homeoffice-Tätigkeit. Das erscheint aber auf mittlere Sicht unwahrscheinlich, zumal nun in Großbritannien eine Mutation des Virus Sars-CoV-2 festgestellt wurde. Generell ist es vor allem die Furcht vor Ansteckung, die dafür sorgt, dass Verbraucher selbst in Nicht-Lockdown-Zeiten physischen Läden fernblieben. Aufgrund des Cocooning – des Rückzugs aus der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben – suchten und bestellten viele Konsumenten, die zuvor virtuelle Shops gemieden hatten, nun im Internet.——Von Martin DunzendorferNicht nur stationärer und Online-Handel driften auseinander – die nächste Stufe der Krise betrifft unverzichtbare und verzichtbare Produkte.——