Tokio

Was hinter dem Attentat auf Shinzo Abe steckt

Japan kennt seit zwei Wochen nur noch ein Thema: den tödlichen Angriff auf den früheren Regierungschef Shinzo Abe. Über die Hintergründe der Tat werden immer mehr Einzelheiten bekannt.

Was hinter dem Attentat auf Shinzo Abe steckt

Seit dem tödlichen Attentat auf Ex-Premierminister Shinzo Abe sind zwei Wochen vergangen, aber Japan kennt kein anderes Thema mehr. Die Öffentlichkeit wartet jedoch immer noch auf eine Erklärung der Ermittler zu den Motiven des Einzeltäters. Offenbar will die Kriminalpolizei die vollen 21 Tage an möglicher Untersuchungshaftdauer nutzen, um sich ein komplettes Bild zu verschaffen. Dennoch sickerten viele Informationen über Tetsuya Yamagami durch, der direkt nach seinen zwei Schüssen auf den früheren Regierungschef festgenommen wurde.

Zunächst wurde nur bekannt, dass der 41-Jährige Abe wegen dessen „Verbindung“ zu einer „religiösen Gruppe“ als Ziel ausgewählt habe. Japans große Zeitungen wollten den Namen der Gruppe tagelang nicht nennen, obwohl auf Twitter, Japans wichtigstem sozialen Medium, viele Nutzer auf die koreanische Vereinigungskirche hinwiesen. Die selbst auferlegte Nachrichtensperre wurde inoffiziell damit begründet, dass man Übergriffe auf Japaner koreanischer Abstammung fürchtete. Plausibler erscheint, dass die Medien einen Schaden für das Ansehen des Ermordeten und seiner Liberaldemokratischen Partei vermeiden wollten.

Yamagami fühlte sich nach eigenem Bekunden als Opfer der Vereinigungskirche, die nach ihrem Gründer häufig als Moon-Sekte bezeichnet wird. Die Mutter des Täters war 1998 Mitglied der Sekte geworden und hatte ihr das gesamte Vermögen der Familie geschenkt. Japanische Medien nennen die Summe von 100 Mill. Yen (700000 Euro). Dafür verkaufte sie das eigene Haus und ein geerbtes Grundstück. Als das zweite Kind Tetsuya 21 Jahre alt war, meldete die Mutter Privatinsolvenz an. Die Familie stürzte in tiefe Armut.

Yamagami besuchte eine Elite-Oberschule, aber es fehlte das Geld für die übliche Nachhilfeschule, um sich auf die Aufnahmeprüfung an einer guten Universität vorzubereiten. Sein Onkel finanzierte ihm zunächst den Besuch einer Berufsschule. Nach drei Jahren als Soldat bei der Marine hangelte er sich von einem Job zum nächsten.

Für seine Misere machte er die Spendengier der Sekte verantwortlich und beschloss zunächst, ihre Anführerin zu töten. Der Plan ließ sich jedoch nur schwer umsetzen. Sein Fokus wanderte zu Abe. Er fand heraus, dass Abes Großvater Nobusuke Kishi, von 1957 bis 1960 selbst Premierminister, die Verbreitung der Vereinigungskirche in Japan gefördert hatte. Kishi und Sektengründer Moon wollten den Antikommunismus in Japan stärken.

Die Zentrale der Moon-Sekte befand sich neben Kishis Haus in Tokio. Sein Sohn Shintaro und sein Enkel Shinzo hielten engen Kontakt zu der Sekte. Im September 2021 lobte Abe in einer fünfminütigen Rede auf einem Online-Event der Schwesterorganisation Universal Peace Federation die Vereinigungskirche für die Bewahrung von Familienwerten.

Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Die Sekte mit heute 600000 Mitgliedern in Japan darf ungehindert missionieren und aggressiv Spenden eintreiben. Zum Beispiel sollen ihre Mitglieder Vasen zu völlig überhöhten Preisen kaufen. „Dafür helfen die Sektenmitglieder der LDP kostenlos im Wahlkampf und geben Abgeordneten der Abe-Partei ihre Stimme“, sagt der Politologe Jeffrey Hall von der Kanda University for International Studies.

Das Magazin „Nikkan Gendai“ berichtete im September 2019, dass sechs der 13 neuen LDP-Minister des vierten Abe-Kabinetts der Sekte nahestünden. Die enge Verbindung ist kein Geheimnis: Eine Gruppe von Anwälten, die japanische Opfer der Moon-Sekte vertreten, forderte Abe damals dazu auf, seine Unterstützung einzustellen. Laut den Anwälten hat die Sekte ihren Klienten einen Schaden von insgesamt 900 Mill. Euro zugefügt.

Unter dem Nutzernamen „Silent Hill 333“ erklärte der spätere Täter im vergangenen Jahr auf Twitter: „Kishi begrüßte die Vereinigungskirche nur, weil sie für die politische Rechte nützlich war… Es ist nicht verwunderlich, dass Abe, der an (seinen Großvater) Kishi glaubte (…), seine gesetzlose DNA geerbt hat.“ Shinzo Abe sei der „einflussreichste Sympathisant“ der Sekte, schrieb Yamagami in einem Brief an einen japanischen Kritiker der Vereinigungskirche und kündigte das Attentat dabei indirekt an.

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