LEITARTIKEL

Wegwerfgesellschaft

Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg. Das ist der erste Ratschlag, den Hans Magnus Enzensberger allen gibt, die sich vor Ausbeutung und Überwachung durch Internetkonzerne, Geheimdienste und andere Sammler von persönlichen Daten schützen...

Wegwerfgesellschaft

Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg. Das ist der erste Ratschlag, den Hans Magnus Enzensberger allen gibt, die sich vor Ausbeutung und Überwachung durch Internetkonzerne, Geheimdienste und andere Sammler von persönlichen Daten schützen wollen. Am vergangenen Wochenende widmete der hoch angesehene Literat zehn Regeln für die digitale Welt allen Menschen, “die keine Nerds, Hacker oder Kryptographen sind und die Besseres zu tun haben, als sich stündlich mit den Fallgruben der Digitalisierung zu befassen”.Die Chancen stehen gut, dass Enzensbergers kleines Regelwerk auf großen Zuspruch, wenigstens aber viel Empathie stößt. Denn die Fallgruben, die der enzyklopädisch belesene Denker ausmacht, sind in den vergangenen Monaten merklich tiefer geworden, haben sich mit den Enthüllungen des Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die Spionageaktivitäten von Nachrichtendiensten im Internet jedenfalls tiefer ins öffentliche Bewusstsein eingebrannt.Dessen ist sich auch die IT- und Telekommunikationsindustrie bewusst, die sich in der nächsten Woche zur alljährlichen Leistungsschau auf dem Messegelände in Hannover trifft. Unter dem Stichwort “Datability” will die Branche auf der Cebit für den verantwortungsvollen Umgang mit großen Datenmengen werben und so das Vertrauen für “Big Data” zurückgewinnen – die Chiffre für einen branchenübergreifenden digitalen Strukturwandel, der durch die von Maschinen und Menschen in immer größerem Umfang generierten Daten getrieben wird.Geht es nach den Berechnungen des Branchenverbandes Bitkom, der auf der Cebit das Heimrecht genießt, werden die Umsätze mit Informationstechnologie und datenbasierten Analyseprodukten für Big Data im laufenden Jahr allein in Deutschland um drei Fünftel auf immerhin 6 Mrd. Euro klettern. Bis 2016 könnte der Heimatmarkt für diese Angebote auf mehr als das Doppelte wachsen. Es geht also nicht nur um Big Data, sondern schon heute um Big Business. Erst recht, wenn man den Umgang mit großen Datenmengen und die daraus ableitbaren Erkenntnisse als Wettbewerbsfaktor für Unternehmen im Handel, in der Finanzindustrie oder im produzierenden Gewerbe ernst nimmt.Das ist nicht alternativlos und natürlich kommt man mit ein bisschen gutem Willen auch im Jahr 2014 prima ohne Smartphone durch den Alltag. Denkt man an die Zukunft des Technologie- und Wirtschaftsstandorts Deutschland, muss man dennoch wünschen, dass möglichst wenige dem Aufruf Enzensbergers in die neue Wegwerfgesellschaft folgen. Stattdessen ist zu hoffen, dass sich mehr unternehmungslustige Talente aus und in Deutschland mit der Digitalisierung sowie der Nutzung von Daten beschäftigen und dabei nicht nur die Fallgruben, sondern auch die Erhebungen vermessen, von denen sich teils spektakuläre Aussichten bieten.Jan Koum, ein junger Mann aus der Ukraine, nahm vor fünf Jahren in Mountain View, Kalifornien, sein Smartphone in die Hand. Statt es wegzuwerfen, schrieb er ein schlichtes Programm, das bald 500 Millionen Menschen nutzen und das die Telekomindustrie allein in diesem Jahr mehr als 30 Mrd. Dollar Umsatz kosten wird. Vor zwei Wochen verkaufte Koum Whatsapp für 19 Mrd. Dollar an den Internetkonzern Facebook.Ein Deal, der für viele Beobachter zusammenfasst, was sie an der Technologiehörigkeit und dem chronischen Optimismus im Silicon Valley schon immer genervt hat. Eine Fallstudie, die aber auch zeigt, welche Dynamik in der schönen neuen Welt am Werk ist. Sie betrifft nicht nur das Internet für Kurznachrichten, “Selfies” und Gedöns. Sie ist auch dabei, die Kommunikation zwischen schnell lernenden Maschinen in industriellen Produktionsprozessen zu verändern, Effizienzpotenziale zu heben und sich als entscheidender Wachstumsfaktor zu etablieren.Für Deutschland mit seinem starken industriellen Kern, seinen ausgezeichneten Ingenieuren und immer noch einigen führenden Anbietern von IT und Software zur Unterstützung von Unternehmensprozessen bieten sich hier große Chancen. Eine aufgeklärte Debatte über Risiken von Big Data sollte dabei helfen, sie zu nutzen. Denn nicht allein die breite Öffentlichkeit, auch mittelständische Unternehmen und Konzerne sind verunsichert. Vielen fehlt eine digitale Strategie für die Zukunft, die meisten sind schlecht vorbereitet auf Angriffe aus dem Cyberspace. Nur ein Handy hat heute beinahe jeder. Wer es wegwirft, sollte die Chancen der Digitalisierung nicht mit in die Tonne treten.——–Von Stefan ParaviciniWer sich vor Datenjägern retten will, soll sein Handy wegwerfen, rät Hans Magnus Enzensberger. Auch auf der Cebit ist “Big Data” das beherrschende Thema.——-