Tokio

Wenig Begräbnis, viel Staat

Das Staatsbegräbnis von Japans ermordetem Premier Shinzo Abe sorgte nicht nur für lange Schlangen an Trauernden, sondern rief auch tausende Demonstranten auf den Plan.

Wenig Begräbnis, viel Staat

„Die Sonne geht immer noch auf und unter, wie sie es immer getan hat, und das Summen der Zikaden (im Sommer) hat sich mit der Zeit gelegt. Am hohen Herbsthimmel hängen die schönen Wolken“, dichtete Yoshihide Suga, der direkte Nachfolger von Shinzo Abe als Premierminister, bei dessen Staatsbegräbnis in dieser Woche. „Die Jahreszeiten ändern sich. Und die Zeit vergeht, auch wenn wir dich nicht mehr bei uns haben. In dieser Vergänglichkeit der Zeit trauere ich noch immer.“

Die poetische Eulogie von Suga, der Abe fast acht Jahre als Kabinettschefsekretär gedient hatte, gehörte zu den Höhepunkten der Trauerfeier für den Politiker, der Anfang Juli bei einem Attentat erschossen wurde. Auch Premierminister Fumio Kishida, wiederum seit Oktober 2021 der Nachfolger von Suga in diesem Amt, sorgte für eine persönliche Note. In seiner zwölfminütigen Rede lobte er den Toten als ehrgeizigen Politiker. Abe habe sich für einen „freien und offenen Indopazifik“ eingesetzt, um den Einfluss von China einzudämmen. An die Adresse eines großen Fotos mit einem schmunzelnden Abe an der Wand der Budokan-Halle erklärte Kishida: „Sie waren eine Person, die viel länger hätte leben sollen.“

Seine Regierung hatte 4300 Gäste zu dem Staatsakt eingeladen. Davon waren 700 aus dem Ausland angereist, darunter Ex-Bundespräsident Christian Wulff, der in seiner Laufbahn immer eine große Japan-Verbundenheit bewiesen hatte. Das Totenlied einer Militärkapelle und 19 Salutschüsse aus Kanonen begleiteten die Ankunft des Behälters mit den sterblichen Überresten des Ermordeten. Dutzende Soldaten in weißen Ausgehuniformen standen Wache vor einem Meer aus tausenden von gelben und weißen Chrysanthemen.

Der militärische Pomp in der Halle fand sein Pendant auf den Straßen der Hauptstadt in der massiven Präsenz von 20000 Polizisten und 1000 Soldaten. Das Uniformheer veranlasste den langjährigen Japan-Korrespondenten von Associated Press zu der Bemerkung, Tokio erinnere eher an einen Polizeistaat als an die Hauptstadt einer der stabilsten Nationen der Welt. Mit ihrem Aufmarsch wollten die Sicherheitsbehörden vermutlich ein bisschen wettmachen, dass sie Abe während seines Wahlkampfauftrittes am 8. Juli nicht vor dem Attentäter schützen konnten. Zugleich fürchtete die Regierung gewalttätige Übergriffe von Gegnern des Traueraktes. Eine Woche vor dem Ereignis hatte sich ein 70-jähriger Japaner vor dem Amts- und Wohnsitz von Kishida aus Protest gegen den Staatsakt selbst angezündet.

Denn Japan zeigte sich keineswegs vereint in der Trauer um Abe, der insgesamt länger regiert hatte als jeder andere Premierminister von Japan seit der ersten modernen Verfassung am Ende des 19. Jahrhunderts. Einerseits bildete sich schon vormittags eine kilometerlange Schlange, die sich durch mehrere Stadtviertel zog. Tausende Japaner standen hier an, um in einem Park nahe der Budokan-Halle an zwei Ständen mit einem Foto von Abe Blumen abzulegen und kurz für ihn zu beten. Sie sahen ihn als aufrechten Patrioten und verdienten Staatsmann. Andererseits versammelten sich Tausende vor dem Parlament und protestierten lautstark gegen die Ehrenzeremonie. Auf Plakaten und in Reden erinnerten die Demonstranten, darunter auch Vertreter der parlamentarischen Opposition, daran, dass Abe die japanischen Kriegsgräuel beschönigt und die pazifistische Nachkriegsverfassung untergraben hatte sowie in mehrere Fälle von Vetternwirtschaft verwickelt gewesen war.

Einige ausländische Besucher stellten schließlich verblüfft fest, dass von einem Staatsbegräbnis im eigentlichen Wortsinn keine Rede sein konnte. Die Witwe Akie Abe trug die Überreste ihres Mannes selbst in die Feierhalle und nahm sie anschließend wieder mit. In der Presse war fälschlicherweise von „Asche“ die Rede. Zwar hatte die Kremierung bereits wenige Tage nach dem Attentat stattgefunden. Aber in Japan enthält die Totenurne jene kleinen Stücke von Knochen, die die Verwandten nach der Verbrennung mit Stäbchen aus der warmen Asche herausnehmen. Diese Urne wird nun offenbar im Abe-Familiengrab in der westjapanischen Stadt Yamaguchi beigesetzt.

                                                (Börsen-Zeitung,

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