Widerstand durch Schlaffheit
Es gab mal eine Zeit, da hat man in Deutschland von der Null-Bock-Generation gesprochen. Schwer zu sagen, ob es sie wirklich gegeben hat und wenn ja, was aus ihr geworden ist. Man hört nicht mehr viel davon, was freilich daran liegen kann, dass Soziologen keinen Bock mehr hatten, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen. Die nachweislich vorhandene Tiktok-Generation verfügt zwar nur über eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, amüsiert sich aber unter dem Stichwort „Quiet Quitting“ mit minimalistischen Formen von Arbeitsmoral und beruflichem Einsatz. Im Tiktok-Erfinderland China wiederum beschäftigt sich die junge und technologieaffine Generation sehr eifrig mit Null-Bock-Themen als Lebensphilosophie.
Das Zauberwort heißt „Tang Ping“ und bedeutet flachliegen. Manche verstehen darunter eine Freizeitgestaltung, für die es lediglich ein bequemes Bett und Sofa nebst einem funktionsfähigen Smartphone braucht. Für die meisten jedoch geht es um eine Lebensauffassung, mit der man sich bewusst den Anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft entzieht und damit auch dem, was sich Chinas Staat so alles von seinen jungen Bürgern wünscht. Kein Wunder, dass die in Sachen Jugenderziehung und kultureller Werteformung alles andere als passive Partei dagegenzuhalten versucht.
Ein Problem ist freilich, dass die Generation der Lustlosen auf propagandistische Aufputschmittel kaum anspricht und wenig Angriffsfläche für Drohungen bietet. Der chinesische Staat hat zwar reichlich Übung darin, politischen Agitatoren berufliche Chancen zu verwehren, sie sozial zu isolieren, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken und im Ernstfall zum Hausarrest zu verdonnern. Wie soll man aber mit Normabweichlern umgehen, die das vermeintliche Strafprogramm schon freiwillig verinnerlicht haben?
Es braucht neue Ansätze, um der Passivrevolte zu begegnen. Die Partei versucht es etwa mit relativ sanfter Medienerziehung. Eine Flut von Artikeln lässt vor Elan strotzende junge Angestellte und Universitätsabgänger zu Wort kommen, die sich auf ihre sagenhafte Karriere mitsamt Mehrfach-Kindersegen, Elektroautokauf und Hauserwerb freuen. Flankiert wird dies mit „unabhängigen Meinungsumfragen“, aus denen hervorgehen soll, dass Tang Ping bislang nur einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung infiziert hat und virusgleich ausgerottet werden kann.
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Apropos Virus, der Staatsapparat bedient sich neuerdings der Tang-Ping-Terminologie, um die mit spektakulären Wirtschaftsschäden einhergehende Coronapolitik zu verteidigen. In Leitartikeln der Parteizeitungen heißt es, Chinas Wachstumseinbruch habe nichts mit der Nulltoleranzpolitik, sondern nur mit der Präsenz des Virus selbst zu tun. Wenn sich China nun wie westliche Länder verhielte – also flachliegen und nix machen –, würde das die heimische Wirtschaft und Gesellschaft erst recht verwüsten.
Verdacht auf Untätigkeit bei Corona kann damit jeden lokalen Parteivorsteher die Karriere kosten. Ergo schicken sie schon nach ein paar Dutzend Corona-Fällen ganze Großstädte in den partiellen oder vollen Lockdown. Die 20-Millionen-Metropole Chengdu ist jetzt auf unbestimmte Zeit komplett abgeriegelt. Während es im Frühjahr eine Mordsaufregung um den zweimonatigen Schanghai-Lockdown gab, scheinen die Bewohner von Chengdu milder zu reagieren. Das liegt an einem gewissen Gewöhnungseffekt in Sachen Nulltoleranzwahn und auch an der Ortsmentalität.
Chengdu gilt als Chinas Kapitale der Gelassenheit und des gemütlichen Lebenswandels. Alles andere wäre bei dem fast dauerhaft schwülheißen Wetter sowieso unangebracht. Die Stadt ist für drei Attraktionen bekannt: Geselligkeit beim stundenlangen Hotpot-Essen, die Panda-Station, in der sich alles um drollige Behäbigkeit dreht, sowie ein riesiger Park mit China-Pavillons, in dem die älteren Semester beim Teetrinken und Sonnenblumenkernkauen abhängen. Und wie gedenkt die jüngere Generation in Chengdu mit dem harten Lockdown umzugehen? Die Antwort lautet unisono „Tang Ping“.