LEITARTIKEL

Willkommenstemperatur

Wie viel Willkommenskultur kann sich Deutschland leisten? Die Frage wird derzeit nicht nur im Berliner Regierungsbezirk diskutiert. Denn während die einen Bundeskanzlerin Angela "Mama" Merkel für ihr unerschütterliches Bekenntnis zu europäischen...

Willkommenstemperatur

Wie viel Willkommenskultur kann sich Deutschland leisten? Die Frage wird derzeit nicht nur im Berliner Regierungsbezirk diskutiert. Denn während die einen Bundeskanzlerin Angela “Mama” Merkel für ihr unerschütterliches Bekenntnis zu europäischen Werten in der allgegenwärtigen Flüchtlingskrise feiern, tippen sich andere Beobachter im In- und Ausland ungläubig an die Stirn. Haben die Deutschen und vorneweg die Kanzlerin denn den Verstand verloren? Wer lässt sich schon mitten in der größten Flüchtlingsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit freundlicher Miene zusammen mit Asylsuchenden fotografieren? Kein Wunder, dass sich solche Botschaften in Zeiten sozialer Medien rasend schnell verbreiten und neue Flüchtlingstrecks Richtung Deutschland in Gang setzen, heißt es länger schon auch an der eigenen Parteibasis.Folgt man diesem etwas eigentümlichen Verständnis von Pull- und Push-Faktoren internationaler Migrationsströme, wird es freilich höchste Zeit, neben freundlichen “Selfies” mit der Kanzlerin auch die Wetterkarte für Deutschland dem Zugriff über das Internet zu entziehen. Denn mehr noch als die herzerwärmende deutsche Zuversicht – “Wir schaffen das!” – wird in Zukunft wohl das kühl-feuchte und doch gemäßigte Klima hierzulande Flüchtlinge aus aller Welt anziehen. Eine angenehme Willkommenstemperatur geht wohl schon bald vor Willkommenskultur. Die klimabedingte Migration wird nach Einschätzung von Experten jedenfalls an Bedeutung gewinnen. Insbesondere dann, wenn es nicht gelingen sollte, das Ausmaß des Klimawandels auf ein beherrschbares Maß zu begrenzen. Ein “beherrschbares Maß” erfordert nach den Modellen von renommierten Klimaforschern und dem erklärten Willen der internationalen Klimapolitik aber, dass die Temperatur bis zum Jahr 2100 weltweit nicht mehr als 2 Grad Celsius über den Durchschnitt der vorindustriellen Werte steigen darf.Etwas mehr als zwei Wochen vor Beginn der Klimaschutzkonferenz in Paris steht allerdings bereits fest, dass die dort angepeilten Vereinbarungen zwischen den mehr als 190 Signatarstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen nicht geeignet sein werden, das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Selbst wenn alle Länder ihre angekündigten Ziele vollständig umsetzen sollten, würde die Erdtemperatur immer noch um 2,7 Grad Celsius steigen, stellten die UN in einem Vorabbericht zur Konferenz fest. Zudem habe etwa ein Viertel der knapp 160 Staaten, die bisher nationale Klimaschutzpläne angekündigt haben, deren Umsetzung von finanzieller oder technischer Unterstützung durch die Industrienationen abhängig gemacht.Wenn aber so weitergewirtschaftet wird wie bisher, wird die Temperatur bis zum Jahr 2100 nach Einschätzung von Experten im Mittel um 4 bis 5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter steigen. In einigen Regionen wäre Arbeit im Freien nach den Prognosen dann nicht mehr möglich. Mehrere Inselstaaten würden ganz im Meer versinken. Länder wie Deutschland würden dann wohl unabhängig von der Freundlichkeit des politischen Spitzenpersonals vor allem wegen der gemäßigten Temperaturen zum Sehnsuchtsort. Der Treck der Klimamigranten würde aber wohl selbst den nach vier Jahren unerbittlichen Bürgerkriegs in Syrien in Bewegung gesetzten Flüchtlingsstrom in den Schatten stellen.Zwar gibt es mangels solider Prognosen zu klimatischen, demografischen und sozialen Veränderungen in den mutmaßlich am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen nur Schätzungen über die zu erwartenden Migrationswellen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung zu Globalen Umweltveränderungen ging zuletzt aber davon aus, dass wenigstens ein Zehntel aller Fluchtbewegungen weltweit schon heute ein Resultat des Klimawandels und seiner Folgen ist. Der Weltklimarat rechnet bis 2050 mit insgesamt bis zu 150 Millionen Migranten infolge des Klimawandels. Der britische Ökonom Nicholas Stern kam in seiner Untersuchung der wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels bereits 2006 zu dem Schluss, dass es im Jahr 2050 rund 200 Millionen Klimamigranten geben wird. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr befanden sich nach Einschätzung der Vereinten Nationen weltweit insgesamt knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht.Statt die Willkommenskultur im Inland zu pflegen, müsse Deutschland mehr tun, um die Fluchtursachen im Ausland bekämpfen, fordern nicht nur die Kritiker der Kanzlerin. In zwei Wochen gibt es in Paris eine selten gute Gelegenheit dafür.——–Von Stefan ParaviciniWährend Deutschland über Willkommenskultur diskutiert, machen sich immer mehr Flüchtlinge wegen der Folgen des Klimawandels auf den Weg.——-