Winkelzüge der Macht
Am Anfang dieser Woche wollte ich ein Interview mit der Kabinettsabteilung für die „Gesellschaft mit 100-jährigem Leben“ vereinbaren. Diese Abteilung hatte der langjährige Premierminister Shinzo Abe vor vier Jahren eingerichtet. Seine Idee: Die Japaner sollen lebenslang aktiv bleiben und möglichst lange arbeiten, um die wirtschaftlichen Folgen der alternden und schrumpfenden Bevölkerung abzumildern – daher die seltsame Bezeichnung.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass Regierungschef Fumio Kishida diese Institution abgeschafft hatte, obwohl ihre Aufgabe ungelöst ist. Eine inhaltliche Begründung erhielt ich nicht. Aber ich hatte eine kleine Entdeckung gemacht: Die Streichung des Amtes muss man wohl im Kontext eines Machtkampfes zwischen dem aktuellen Premier und seinem Vorvorgänger verstehen. Kishida verdankt die Führung der Liberaldemokraten (LDP) nämlich der Unterstützung von Abe, aber will kein Premier von dessen Gnaden sein.
Die Ausgangsposition von Kishida ist eigentlich schlecht: Abe leitet die mit Abstand größte Faktion innerhalb der Abgeordnetengruppe der regierenden LDP, die Gruppe von Kishida ist nicht einmal halb so groß. Zugleich unterliegt Abe nicht der Parteidisziplin, da er kein einziges LDP-Amt innehat. Der Ex-Premier trägt seine Wünsche für Politikinhalte und Personalien in direkten Gesprächen im Hinterzimmer vor. Damit löst Abe den 84-jährigen Ex-Premier Yoshiro Mori als informelles LDP-Machtzentrum ab.
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Doch Kishida scheint eine langfristige Strategie zu verfolgen, die über Nadelstiche wie die Abschaffung einer Kabinettsabteilung weit hinausgeht. So entschied der Premier entgegen der üblichen Praxis, seine eigene LDP-Faktion weiter selbst zu führen, um die Abgeordneten direkt beeinflussen zu können. Vor allem machte der 64-Jährige deutlich, dass er sich auch in der Wirtschafts- und Außenpolitik inhaltlich von Abe distanziert.
Zum einen propagiert Kishida einen „neuen Kapitalismus“ im Unterschied zur Abenomics-Politik und ihrem Laisser-faire-Ansatz. Zum Beispiel regte er eine höhere Kapitalertragsteuer und eine schärfere Regulierung von Aktienrückkäufen an. Vergeblich warnte Abe öffentlich, die Finanzmärkte könnten solche Ideen für „sozialistisch“ halten. Zum anderen vergab Kishida das Außenministerium an Yoshimasa Hayashi, der als sehr chinafreundlich gilt. Seit 2017 führte er den „Japanisch-chinesischen Parlamentarischen Freundschaftsverband“. Hayashi dürfte eine viel weichere Gangart gegenüber Peking fahren als Abe in seiner Regierungszeit.
Diese Provokationen milderte Kishida geschickt ab: Er tauchte nämlich beim ersten Treffen des „LDP-Hauptquartiers für die Verwirklichung der Verfassungsreform“ auf. Bisher galt es als Tabu, dass ein Regierungschef sich offen für diese Reform ausspricht. Zudem hatte Kishida in der Vergangenheit wenig Interesse an diesem Thema gezeigt. Umso mehr überraschte die Rede, die er bei dem Treffen hielt: Er wolle die „volle Kraft“ der Partei dafür mobilisieren, die Verfassungsreform voranzutreiben. Eine Debatte im Parlament und die Überzeugung der Wählerschaft seien „zwei Räder am Karren“ zur Umsetzung der Reform.
Mit diesem Manöver zielt Kishida auf die Achillesferse von Shinzo Abe. Denn dessen größtes Ziel besteht darin, die Verfassung zum ersten Mal seit ihrer Einführung 1947 endlich zu überarbeiten. Vor allem die Rolle der japanischen Streitkräfte, die im sogenannten Pazifismus-Artikel festgeschrieben ist, soll neu definiert werden. Die Motivation von Abe ist nationalistischer Natur: Die damalige Besatzungsmacht USA ließ die Verfassung schreiben und oktroyierte sie Japan. Doch Abes Reformplan kam während dessen fast acht Amtsjahren nicht voran. Mit seinen ultrakonservativen Positionen provozierte er zu viel Widerspruch.
Dagegen hätte der gemäßigte Premier Kishida wesentlich bessere Chancen, die notwendige Volksabstimmung über die Änderungen zu gewinnen. Mit seinem plötzlichen Engagement für die Reform sandte Kishida also ein Signal an Abe: Wenn Du mir keine Knüppel zwischen die Beine wirfst, dann werde ich Dir helfen, Deinen politischen Lebenstraum zu verwirklichen.