Wirecard-Skandal wird die Justiz lange beschäftigen
Der Wirtschaftskriminalfall Wirecard hält die deutsche Justiz in Atem. Aufgrund der Dimension, der Komplexität der Umstände für den Zusammenbruch des Zahlungsabwicklers im Juni 2020 und des bislang festgestellten Schadens in Milliardenhöhe wird die Causa die Gerichte lange beschäftigen. Das betrifft sowohl die sich abzeichnenden Strafprozesse gegen die Hauptverantwortlichen als auch die Masse von Zivilverfahren im Rahmen von Schadenersatzklagen. Das trifft vor allem die für die rechtliche Aufarbeitung und Aufklärung zuständigen Justizbehörden in München, schließlich residierte das einstige Dax-Mitglied in Aschheim, einem Vorort der bayerischen Landeshauptstadt.
Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit dürfte das Strafverfahren gegen die Beschuldigten einnehmen. Dabei wird vor allem der frühere Vorstandschef und Großaktionär Markus Braun im Rampenlicht stehen. Der gebürtige Wiener sitzt seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation in mehreren Fällen vor. Sein Ex-Vorstandskollege Jan Marsalek entzieht sich bisher dem Zugriff der Justiz mit einer Flucht. Der ebenfalls aus Österreich stammende Ex-Manager wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Dessen ungeachtet ist die Staatsanwaltschaft davon überzeugt, genügend Beweise gesammelt zu haben, um Braun und seine mutmaßlichen Komplizen anzuklagen. Das Oberlandesgericht München (OLG) rechnet mit einer Anklage bis Mitte März 2022. Diese wird umfangreich sein. Daher wird das zuständige Landgericht München (LG) voraussichtlich Monate dafür verwenden, die Zulässigkeit zu prüfen und auf dieser Basis zu entscheiden, in welcher Breite Braun sich vor einer Wirtschaftsstrafkammer verantworten muss. „Entsprechend dem gemeinsamen Plan und in dem Wissen, dass angeblich vorhandene Vermögenswerte in Höhe von zuletzt 1,9 Mrd. Euro (…) nicht existierten, veranlassten die Beschuldigten die Verhandlung verschiedener Kredite und ähnlicher Geschäfte mit Investoren. Banken in Deutschland und Japan sowie sonstige Investoren stellten, durch die falschen Jahresabschlüsse getäuscht, Gelder in Höhe von rund 3,2 Mrd. Euro bereit, die aufgrund der Insolvenz der Wirecard AG höchstwahrscheinlich verloren sind“, teilten die Strafermittler im Juli 2020 mit. Solange gegen Braun kein Urteil gefällt ist, gilt für ihn die Unschuldsvermutung.
Seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der Wirecard-Verwalter Michael Jaffé derweil damit beschäftigt, für die Gläubiger aus der Insolvenzmasse so viel herauszuholen wie möglich. Der Schaden übersteigt aber die Habenseite deutlich. Mit dem Verkauf von Konzerntöchtern im Ausland konnte seine Anwaltskanzlei bisher etwas über 500 Mill. Euro hereinholen. Je länger das Insolvenzverfahren sich allerdings hinzieht, desto schwieriger wird es für den früheren Kirch-Media-Abwickler werden, weitere Millionensummen zusammenzubringen. Die juristische Abwicklung der 1999 gegründeten Wirecard AG wird erfahrungsgemäß lange dauern. Jaffé veranschlagt dafür insgesamt rund zehn Jahre. Der Grund: Die Zahl der Kläger geht nach Angaben des für das Insolvenzverfahren zuständigen Amtsgerichts München in die Tausende. Die bislang eingegangenen Schadenersatzforderungen von Kleinaktionären gegen das Unternehmen umfassen insgesamt einen zweistelligen Euro-Milliardenbetrag.
Teufel steckt im Detail
Fraglich ist dabei, ob diese überhaupt eine Chance haben, aus der Insolvenzmasse befriedigt werden zu können. Der Teufel steckt im Detail. Denn der Kuchen, aus dem Jaffé die Anspruchsberechtigten bedienen kann, ist im Verhältnis zum angerichteten Schaden relativ überschaubar. Nach der Insolvenztabelle stehen weit oben im Ranking die betroffenen Beschäftigten, die Sozialkassen und die Kreditgeber. Die Aktionäre als Eigentümer von Pleite-Unternehmen gehen in der Regel leer aus. Ihnen droht in der Causa Wirecard ein Totalverlust. Vor diesem Hintergrund erhoffen sich viele Kleinanleger, über Schadenersatzklagen gegen den Wirecard-Abschlussprüfer EY wenigstens einen Teil ihrer Wertverluste ersetzt zu bekommen. Nach den Erkenntnissen des Wirecard-Untersuchungsausschusses des Bundestages und dem bisherigen Verhalten der Münchner Justiz deutet einiges darauf hin, dass Zivilverfahren gegen EY womöglich Erfolgsaussichten haben. So berufen sich zum Beispiel die Aktionärsschützer von der SdK auf den Untersuchungsbericht des Wirtschaftsprüfers Martin Wambach. Der Wambach-Report wirft EY zahlreiche Versäumnisse bei der Prüfung der Wirecard-Bücher vor. EY weist ein Fehlverhalten zurück. Anwälten zufolge haftet EY uneingeschränkt, wenn vor Gericht nachgewiesen werden kann, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vorsätzlich gehandelt hat, – also ihre Pflichten verletzt hat, indem sie wissentlich die Angaben des Unternehmens nicht genau durchleuchtet hat („ins Blaue hinein geprüft“). Einzelklagen gegen EY hätten höhere Erfolgschancen als Sammelklagen nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, so die SdK. Letzteres hätte den Nachteil, dass die Verfahren auf diesem Weg zu lange dauerten, argumentieren die Aktionärsschützer.
Das OLG hingegen empfiehlt den Rechtsweg über die Musterverfahren. Das würde die Justiz entlasten, so das Gericht. Die gleiche Instanz rügte zuvor einen Beschluss des Landgerichts, Klagen gegen EY ohne Beweisaufnahme abgewiesen zu haben. Das OLG forderte eine „umfangreiche Beweisaufnahme“ und kündigte an, die Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen.
Derweil klagt Jaffé auf Nichtigkeit der Wirecard-Jahresabschlüsse 2017 und 2018, um Dividenden für diese Jahre zurückfordern zu können. Darüber will das Landgericht im Mai entscheiden.
Fazit: Das Ärgernis um Wirecard für Kleinanleger findet vorerst kein Ende, während die Gläubigerbanken und institutionellen Investoren ihre damaligen Engagements bei dem Skandalunternehmen bilanziell längst verdaut haben.