Frankfurt

Zeitgeist fährt Zweirad

Seit der Jahrtausendwende ist der Anteil der per Fahrrad zurückgelegten Strecken an mittleren Werktagen laut Verkehrdezernat gestiegen, und zwar von 8% auf 20% zwischen den Jahren 2003 und 2018.

Zeitgeist fährt Zweirad

Mittlerweile ist Radfahren ein politischer Akt: Vor der Kommunalwahl fuhr ein Pulk tausender Menschen auf ebenso vielen Fahrrädern aus der Innenstadt kommend über die Autobahn 661, nachdem sich die lose organisierte Fahrradgruppe der „Critical Mass“ bereits über einige Jahre hinweg regelmäßig durch die Innenstadt treiben ließ, während in der vergangenen Woche ein „Ride of Silence“ im Gedenken an einen verunglückten Radfahrer durch Frankfurt zog.

Die Demonstrationen sind Zeichen eines Gesinnungswandels. Das Auto ist als Stickstoffoxid-Schleuder, Klimakiller, Lärmkiste und eben als potenziell tödliches Objekt bekannt. Seit Beginn der Pandemie sind Bus und Bahn als mögliche Infektionsherde in Verruf geraten. Die Frankfurter Politik sattelt um und richtet auf etlichen dicht befahrenen Straßen Radwege ein, etwa auf der Baseler Straße am Hauptbahnhof, auf der Mainzer Landstraße im Gallusviertel, auf der Hanauer Landstraße im Ostend, auf der Alten Brücke über den Main. Der Mainkai steht nach umstrittener Sperrung für den Autoverkehr zwar grundsätzlich wieder allen offen, doch über die Sommerferien wurde die Straße erneut gesperrt, weil auch hier neue Fahrradwege vorgesehen sind. Der Zeitgeist fährt Zweirad.

Was für ein Wandel! In der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts wurden Ein- und Ausfallstraßen nach dem Leitbild einer „verkehrsgerechten Stadt“ ausgebaut, wie das Institut für Stadtgeschichte festhält. Heute zeugt die Berliner Straße quer durch die ehemalige Altstadt vom damaligen Leitbild, ebenso der Verkehrskreisel der Ludwig-Erhard-Anlage am Messeturm oder ein Netz an Autobahnen und Schnellstraßen rund um die Stadt. Immerhin: Auch die Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr wurde gestärkt. Die unterirdischen S- und U-Bahn-Trassen stammen aus dieser Zeit. Hauptbahnhof, Hauptwache und Konstablerwache sind Knotenpunkte im öffentlichen Verkehr. Derweil stehen weite Teile der Zeil nur Fußgängern offen.

Jetzt ist endlich das Fahrrad an der Reihe. Der nunmehr stärkere Akzent in der Verkehrsplanung lässt sich aber nicht allein mit dem Diskurs rund um Klima und Luftverschmutzung oder dem Einfluss eines grün-bürgerlichen Milieus in der Innenstadt begründen, sondern er folgt auch aus dem Bedarf der Bürger. Seit der Jahrtausendwende ist der Anteil der per Fahrrad zurückgelegten Strecken an mittleren Werktagen laut Verkehrdezernat gestiegen, und zwar von 8% auf 20% zwischen den Jahren 2003 und 2018. Natürlich ist die Möglichkeit, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, auch Ausdruck eines Privilegs. Weder Gesundheit noch eine Wohnstätte in der Stadt sind selbstverständlich. Wer von weit außerhalb kommt oder eben nicht in die Pedale treten kann, wird auch künftig auf motorisierte oder elektrifizierte Untersätze angewiesen sein. Doch noch immer gibt es viel zu tun, um den Umstieg auf das Fahrrad zumindest zu erleichtern.

Als Fahrradstadt hat Frankfurt aber auch viel zu bieten. Das südliche Mainufer ist von Offenbach im Osten bis zum Industriepark im Westen durchgehend ohne Straßenüberquerung befahrbar, auch wenn am Museumsufer wegen einer Vielzahl an Fußgängern ein Galopp auf dem Drahtesel sicher nicht ratsam ist. Niddaweg, Park­anlagen und verkehrsberuhigte Wohngebiete erlauben schon heute ein entspanntes Vorankommen. Auch Ausflugsziele gibt es reichlich: Entlang des Mains bis nach Mainz oder nach Aschaffenburg, über den Radfahrschnellweg R8 nach Darmstadt, über Bergen-Enkheim raus über die Hohe Straße nach Nordosten oder quer durch den südlichen Stadtwald – ein Paradies!

Im Jahr 2020 aber sind in ganz Deutschland 426 Fahrradfahrende tödlich verunglückt, weiß das Statistische Bundesamt – eine Vielzahl an Verletzten kommt noch hinzu. Sicher ist das Radfahren auch in Frankfurt nicht. Die Radlergemeinde stellt zuweilen weiß lackierte Fahrräder („Ghostbikes“) als Denkmal an ehemaligen Unfallorten auf. Fahrradhelm und für dunkle Stunden eine intakte Beleuchtung und Warnweste sind in Frankfurt ebenso notwendig wie Umsicht an schwer einsehbaren Kreuzungen und an stark befahrenen Straßen. Das Verhältnis zwischen Autofahrern und Radlern ist belastet. Neue Fahrradwege erleichtern hoffentlich das Zusammenleben.

(Börsen-Zeitung,