Zwei Kilo Prime Steak und eine Enzyklopädie
Vor vielen Jahren, als Staubsaugervertreter bereits ziemlich out waren, konnte es einem in deutschen Landen immer noch passieren, dass es an der Tür klingelte und ein seriös gekleideter Herr mit gekonnter Aufdringlichkeit zum Thema Bildungslücken vorsprach, um einen zum Kauf des Allwissensvorrats einer Brockhaus-Edition zu überreden. Das Geschäftsmodell in Sachen Enzyklopädievertrieb funktionierte aus drei Gründen bis in die neunziger Jahre hinein. Es gab noch genügend „Bildungsbürger“, die – gewissen sozialen Zwängen und Einrichtungsmoden folgend – ein riesiges Wohnzimmerregal mit gediegen wirkenden Buchbänden zu füllen hatten. Es gab Menschen, denen beim Kauf eines riesigen Nachschlagewerks ein genauso zentnerschwerer Stein vom Herzen fiel, weil das perfekte Konfirmationsgeschenk gefunden war. Und es gab kein Internet mit Google und Wikipedia.
Während das Geschäft mit Brockhaus-Bänden oder der Encyclopedia Britannica ziemlich tot ist, sieht man den chinesischen Verbraucher trotz völliger Hingabe an Smartphone-Welten durchaus lebhaft nach haptischen Bildungserfahrungen beziehungsweise vielbändigen Nachschlagewerken greifen. Nach dreißig Jahren Wirtschaftswunder hat sich eine aufstrebende, urbane Mittelschicht herausgebildet, der einiges daran liegt, mit einer Wohnzimmereinrichtung Eindruck zu schinden, bei der ein passend gefülltes Bücherregal nicht fehlen darf. Viele legen Wert darauf, dass auch einige englische Buchtitel und ausländische Wälzer mit eingestreut sind, um einen Hauch von Kosmopolit zu verbreiten. Grundsätzlich gilt für die Bände: je dicker, desto besser. So lassen sich beim Auftritt in den sozialen Medien Bilder platzieren, auf denen man ganz zufällig ein Wohnzimmerambiente mit Bildungschic vermitteln kann.
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In China hat es die Vermarktungsform des Klinkenputzens mit Vertretern, die an Haustüren klingeln, nie gegeben. Dafür aber schon immer eine besonders ausgeprägte Marktschreiertradition. Diese lebt sich heutzutage vor allem auf Online-Plattformen und in Livestream-Apps aus. Dort können extrovertierte Vermarktungstalente ihre große Klappe und den „Blickkontakt“ zum Verbraucher nutzen, um saftige Litschi-Früchte, knallige Lippenstifte oder eben auch Lehrbücher an den Mann oder die Frau zu bringen. Dabei wird noch in der Livestream-Sendung mit dem Smartphone bestellt und bezahlt.
Als letzter Schrei gilt nun die Verquickung von Livestream-Shopping mit Online-Bildung. Dafür verbürgt sich Chinas größter Anbieter im Online-Schulwesen, New Oriental Education Technology. Dieser galt bis vor kurzem als besonders prominentes Opfer der Pekinger Regulierungskampagne im Tech-Sektor. Vor einem Jahr hatte die Regierung eine Verordnung erlassen, die den Online-Schulungsfirmen von einem Tag auf den anderen ihr lukrativstes Geschäftsfeld untersagte, nämlich gut bezahlten Wochenend- und Nachhilfeunterricht für Schulkinder in Leistungsfächern wie Mathematik und Englisch.
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New Oriental darf mit Online-Unterricht in Schulfächern kein Geld mehr verdienen und hat ihre besten und populärsten Lehrkräfte umsatteln lassen. Sie bestreiten nun Livestream-Sendungen, in denen sie gezielt bestimmte Waren verscheppern, den Zuschauern dabei parallel aber auf unterhaltsame Art Englischvokabeln und andere Wissensinhalte wie den Satz des Pythagoras vermitteln.
Den Anfang macht eine Sendung, in deren Rahmen der Firmengründer persönlich Rindersteaks verkaufte. Nebenbei bekamen die Zuschauer/Schüler/Käufer jede Menge englische Fachbegriffe zur Rinderanatomie und Barbecue-Kultur vom Rib-Eye, über Tomahawk bis zum Porterhouse Steak und Qualitätsstufen wie Select oder Prime Beef vermittelt. Mit dem Steak-Livestream und einigen Folgesendungen wurde ein Kultstatus erreicht, der nun ein Millionenpublikum von wissbegierigen Online-Shoppern auf die Plattform bringt. New Oriental zufolge haben sich als Absatzrenner neben Rindfleisch und Meeresfrüchten tatsächlich auch Enzyklopädien für Erwachsene und Kinder erwiesen.