Hohe Kursziele

Siemens steuert eine neue Ära an

Siemens hat eine Phase des radikalen Umbaus hinter sich. Berechenbarkeit soll nun zum neuen Markenzeichen der Münchner werden.

Siemens steuert eine neue Ära an

Siemens? Das ist doch der Konzern, der regelmäßig unter seinen Möglichkeiten bleibt. Diese Wahrnehmung hat sich in den Köpfen insbesondere von angelsächsischen Investoren festgesetzt. Siemens beschäftige zwar geniale Ingenieure und dirigiere eine strahlende Marke, produziere aber halt immer wieder mal milliardenteure Projektfehlschläge oder Skandale. Außerdem würden Unternehmen viel zu teuer eingekauft.

Mittlerweile sind derartige Einschätzungen nur noch Zerrbilder, schließlich ist das heutige Siemens nicht mehr mit dem Unternehmen vor dem Jahr 2013 vergleichbar. Analysten trauen den Münchnern hohe Kursziele zu. Trotzdem: Klischees sind langlebig, zumal sich die quartalsweise Ergebnisvolatilität bis zuletzt gehalten hat. Der Kapitalmarkt darf sich nun aber endgültig von seinen Urteilen verabschieden. Denn der seit einigen Monaten amtierende Vorstandsvorsitzende Roland Busch hat gemeinsam mit Finanzvorstand Ralf Thomas auf dem Kapitalmarkttag 2021 eine neue Ära angesteuert. Berechenbarkeit soll zum Markenzeichen der Münchner werden.

Die veränderte Ausschüttungspolitik ist das sichtbarste Signal für diese Zielsetzung. Die Aktionäre erhalten die Zusage, dass ihre Dividende nicht mehr sinkt. Sie können sich also auf eine gewisse Verzinsung ihres eingesetzten Kapitals verlassen. Siemens zementiert damit die Praxis, die der Konzern seit mehr als zwei Jahrzehnten verfolgt: Mit Ausnahme des Sonderfalls Abspaltung Siemens Energy war die Dividende je Aktie in diesem Jahrhundert mindestens immer so hoch wie im Vorjahr. Eine Sensation ist die neue Zielsetzung auch deswegen nicht, weil andere Dax-Konzerne diese Linie ebenfalls teils explizit verfolgen. Beispielsweise hat die Allianz schon im Jahr 2014 ein gleichlautendes Versprechen abgegeben.

Diese Einschränkungen ändern aber nichts an der Tatsache: Siemens macht sich für die Investoren berechenbarer. Die Zusage hat auch deswegen ein hohes Gewicht, weil der Kapitalgüterkonzern eben kein Versicherer ist, der einen hohen Anteil wiederkehrender Einnahmen hat, wenn die Versicherungspolicen erst einmal verkauft sind. Man darf allerdings gespannt sein, wie sich die jährliche Diskussion über die konkrete Dividendenhöhe entwickelt. Denn Siemens verzichtet anders als die Allianz komplett auf die Richtschnur eine Ausschüttungsquote. Außerdem wird kein Mechanismus definiert, wann der Konzern doch von seiner Zusage abweichen darf – die Allianz hat das Einhalten einer bestimmten Kapitalausstattung (Solvenzquote) zur Bedingung gemacht.

Die Dividendenzusage wäre reine Schaufensterpolitik, wenn Siemens nicht zugleich die operative Resilienz erhöhen würde. Beispielsweise versucht der Vorstand dies mit dem Umstellen vom Lizenzverkauf auf das Servicemodell im Software-Geschäft. Dies ist ein Wagnis. Konkurrenten wie PTC haben sich blaue Flecken geholt. Wenn Siemens den Wechsel aus einer technologischen Führungsposition heraus klug bewerkstelligt, ist der Lohn aber die Mühe wert: Umsatz und Marge werden nicht einmalig beim Lizenzverkauf, sondern jährlich wiederkehrend verbucht. Es entsteht im Zukunftsfeld Software-Verkauf eine Art ewige Rente.

Aus Investorensicht entsteht Berechenbarkeit auch durch zusätzliche Transparenz jenseits des Kerngeschäfts. Die Kosten der Unternehmensführung legt Siemens klarer offen, so dass jeder Anleger beurteilen kann, ob er Sparpotenziale sieht. Die Last der Abfindungen durch Personalabbau soll stark sinken. Sonderkosten wie der Nuklear-Standort Hanau verschwinden peu à peu aus dem Zahlenwerk. Nachhaltigkeitsziele lassen sich besser nachverfolgen. Natürlich kann dies alles nicht darüber hinwegtäuschen: Siemens birgt trotz aller Berechenbarkeit Risiken. Aber dies gehört halt zum Unternehmertum. Im laufenden Geschäftsjahr erhöhte der Vorstand zwei Mal die Umsatz- und Gewinnprognose – infolge der Pandemie aus guten Gründen zwar, aber trotzdem war dies nicht eingeplant. Grenzen der Berechenbarkeit existieren auch bei der Frage, ob Siemens die beeindruckende Vorreiterrolle rund um industrielle Software verteidigen oder gar ausbauen kann. Nur auf diese Weise sind die angestrebten Wachstumsraten, die eher an IT- als an Kapitalgüterunternehmen erinnern, erreichbar.

Siemens hat eine Phase des radikalen Umbaus hinter sich. Die neue Berechenbarkeit samt ihrer Grenzen sind Ausdruck der Tatsache, dass für den Konzern eine Phase der Normalität beginnt. Nun stehen nicht mehr die strategischen Themen, sondern die operativen Umsetzungsmühen im Vordergrund. Dies ist eine gute Nachricht.