Bestnoten für die gezeichnete WTO-Chefin
Ngozi Okonjo-Iweala wirkt viel zu abgekämpft und erschöpft, um Erleichterung ausstrahlen zu können. Die Chefin der Welthandelsorganisation (WTO) hat am frühen Freitagmorgen einen Verhandlungserfolg zu verkünden, den manch einer nicht mehr für möglich gehalten hat. „Sie reisen nicht mit leeren Händen nach Hause“, gibt sie den in Genf verbliebenen Ministern und übrigen Vertretern der 164 Mitgliedstaaten auf den Weg. Zwei extra Nachtsitzungen waren nötig.
Dass sie bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen muss, ahnt die Nigerianerin bereits am Dienstagvormittag. Das Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation zu leiten, fühle sich an, wie einen Haufen Katzen hüten: So schildert sie es Wirtschaftsvertretern aus aller Welt auf einer Dachterrasse in der Innenstadt von Genf. Wenige Kilometer außerhalb, am Hauptsitz der WTO, und in umliegenden Hotels sind zu dieser Zeit schwierige Verhandlungen über drängende Fragen der Handelspolitik im Gange. Tags darauf muss sie den Gipfel bis Donnerstag verlängern. Und dann noch mal. Und noch mal.
Beteiligte und Beobachter haben ihr Urteil über Okonjo-Iweala, die seit Februar 2021 die WTO führt und stets in gemusterten Kostümen und Kopftüchern auftritt, da bereits gefällt: Es gibt Lob von allen Seiten. „Ohne sie wäre Chaos“, sagt Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament. Olaf Wientzek, der das Genfer Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet, spricht die 68-Jährige von Mitverantwortung für die verfahrene Lage frei: „Es liegt am mangelnden politischen Willen mancher WTO-Mitglieder, nicht an ihr.“ Auch quer durch die Weltwirtschaft hat sie Eindruck gemacht.
Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), war beim Empfang auf der Dachterrasse dabei. Dass sie sich am Rande des nervenaufreibenden Gipfels mit Verhandlungen bis in die Morgenstunden Zeit für ein Treffen mit Interessenvertretern der Wirtschaft nahm, „kam super an“. Treier zufolge legte Okonjo-Iweala ein klares Bekenntnis ab, dass die Belange international tätiger Unternehmen für sie ein wichtiges Anliegen im Job sind. Treier hatte die WTO-Chefin bereits Anfang Mai im dritten Anlauf für einen hochrangigen Austausch mit deutschen Wirtschaftsvertretern gewinnen können, wenn auch nur virtuell.
Die hervorragend vernetzte Entwicklungsökonomin gibt seit dem ersten Tag ihrer Amtszeit die ideale Nachfolgerin für Roberto Azevêdo. Der Brasilianer galt als blass und eher führungsschwach. Im Sommer 2020 warf er lange vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit hin. Sein Timing begründete Azevêdo auch mit den umfangreichen Vorbereitungen für die 12. Ministerkonferenz, die für viele so große Bedeutung hat.
Die Wahl fiel schließlich auf Okonjo-Iweala. Doch es dauerte Monate, bis die Wunschkandidatin Deutschlands und der EU den Job tatsächlich antreten konnte. Grund war die Blockade durch die damals amtierende US-Regierung unter Donald Trump, ein erklärter Feind der WTO.
„Sie hat nicht viel Vorbereitungszeit gehabt“, sagt Olaf Wientzek am Rande des WTO-Gipfels. Verhaltene Kritik äußert er allenfalls in einem Punkt, der zugleich für den Gestaltungsdrang der Nigerianerin spricht: Wientzek macht einen gewissen Übereifer aus, was ihre Themenwahl betrifft. Nachhaltigkeit, umfassende Antwort auf die Pandemie, Ernährungssicherheit: „Sie forciert Dinge, die zwar durchaus handelspolitischen Bezug haben, aber nicht immer zur engen Kernkompetenz der WTO gehören. Das könnte zur Überfrachtung führen.“
Persönlich von größter Bedeutung ist für Okonjo-Iweala eine Antwort der WTO auf die Pandemie, die sie vehement eingefordert hat. Sie leitete die Impfstoffallianz Gavi, bevor sie zur WTO kam. Ihr Heimatkontinent leidet unter teils sehr niedrigen Impfquoten. Als erste Afrikanerin an der WTO-Spitze steht sie in der Pflicht zu liefern. Weil die Gespräche stockten, erklärte sie das Anliegen vor wenigen Monaten zur Chefsache – ein ungewöhnlicher Schritt in einer Organisation, die auf zähe Konsenssuche aller Mitglieder ausgelegt ist.
Die Nachtsitzungen mit ihren 164 Katzen hatten schon vor den beiden Nachtschichten Spuren bei Okonjo-Iweala hinterlassen: „Sie ist sonst ein Bündel an Lebensfreude, nun wirkt sie körperlich unheimlich mitgenommen“, hat SPD-Politiker Lange beim Treffen in Genf wahrgenommen. Der Verhandlungserfolg hat sie entschädigt.