Evergrande-Chef ist Chinas größter Verlierer
Von Norbert Hellmann, Schanghai
Für die Wahl zum größten Buhmann des Jahres 2021 in Chinas Wirtschafts- und Finanzszene gibt es wohl nur einen Kandidaten. Der Gründer, Chairman und Haupteigner der China Evergrande Group, Hui Ka Yan, hat die bislang einmalige Leistung vollbracht, mit der drohenden Pleite eines privaten Unternehmens das staatskontrollierte Wirtschaftsgefüge des Landes gründlich durcheinanderzubringen, den weltgrößten Wohnimmobilienmarkt in seinen Grundfesten zu erschüttern und die internationale Finanzcommunity in Panik zu versetzen.
Peking hat ein Problem
Die chinesische Regierung hat nach reiflicher Überlegung darauf verzichtet, den zweitgrößten Immobilienentwickler des Landes mit einem Bail-out, sprich dem offen ausgewiesenen Griff in die Staatskasse, förmlich aufzufangen. Dennoch hat sie nun ein gigantisches Sanierungs- und Restrukturierungsverfahren am Hals, weil man Evergrande nicht einfach in Konkurs schicken kann, ohne eine mittlere Finanzkrise vom Zaun zu brechen und den heimischen Immobilienmarkt in eine Abwärtsspirale zu schicken, die dramatische Konjunkturfolgen hätte.
Nun muss Peking also ohne offiziellen Bail-out zusehen, dass Evergrande in der Lage bleibt, das Gros der über 300 noch ausstehenden und größtenteils von privaten Wohnungskäufern anbezahlten Wohnbauprojekte irgendwie durchzuziehen, dabei Lieferanten und Kontraktpartner zu bezahlen und nach Möglichkeit auch die Ansprüche von Kleinanlegern bei von Evergrande aufgelegten Investmentprodukten zu befriedigen. Was wiederum Evergrandes Gläubigerbanken angeht, bedarf es ebenfalls der diskreten Einwirkung der staatlichen Finanzregulierer, um die Kreditversorgung trotz unvertretbar hoher Bonitätsrisiken nicht einfach abzuwürgen.
Aufstieg und Fall der Evergrande Group mit ihren gut 300 Mrd. Dollar ausstehenden Verbindlichkeiten und abenteuerlichem Finanzierungsgebaren ist ein besonders prägnantes Beispiel für die Hybris in der neueren chinesischen Unternehmenskultur, deren Schattenseiten von einem jahrzehntelangen Boom und dem allgegenwärtigen politischen Filz relativ gut kaschiert werden konnten. Hui wiederum hat eine Selfmademan-Karriere hingelegt, die geradezu typisch ist für eine Generation von wagemutigen Entrepreneuren, die sich die turbokapitalistischen Seiten des chinesischen Wirtschaftssystems in der Aufbruchszeit der sogenannten Reform- und Öffnungsbewegung vor 30 Jahren mit bedingungsloser Risikofreude und Erfolgsinstinkt zunutze machen konnten.
Hui ist als Sohn eines Holzschneiders in einem ärmlichen Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan aufgewachsen. Er hatte das Glück, seine guten schulischen Leistungen in ein Universitätsstudium ummünzen zu können. Hui gehörte zum ersten Jahrgang, der nach Beendigung der chinesischen Kulturrevolution im Jahr 1977 wieder eine akademische Ausbildung antreten durfte. Nach ersten beruflichen Erfolgen als Ingenieur bei einem großen staatlichen Stahlunternehmen in der Provinz Henan verschlug es ihn bei einer Geschäftsreise in die damals noch ganz am Anfang stehende Retortenstadt Shenzhen, die heute Chinas viertgrößte Metropole abgibt.
Hui beschloss, seinen sicheren Staatsbetriebsjob aufzugeben, und siedelte Mitte der neunziger Jahre nach Shenzhen um, wo sich mit der Liberalisierung von Landnutzungsrechten in der neuen Sonderwirtschaftszone ein gewaltiger Immobilienboom zu entfalten begann. Hui fand Zugang zu einem Grundstück, auf dem ein Agrochemiewerk gestanden hatte, und ließ darauf einen Wohnblock entstehen, der reißenden Absatz fand und seinen Ruf als gewiefter Unternehmer begründete.
Binnen nur zehn Jahren wuchs Evergrande zu einem landesweit tätigen Wohnbauträger heran, der im Jahr 2009 mit einem vielbeachteten Börsengang in Hongkong auf frische Kapitalquellen stieß und sie für weiteres explosives Wachstum nutzte. Für die Anleger galt die nach und nach auch in immobilienfremde Bereiche expandierende Evergrande längst nicht mehr als Geheimtipp, sondern als ein sicherer Performance-Champion, dem die Analystengemeinde regelrecht huldigte.
Ungewisses Nachspiel
Der raketenhafte Kursanstieg der Evergrande-Aktie ließ Hui im Jahr 2017 mit einem geschätzten Vermögen von 43 Mrd. Dollar an allen heimischen Tech-Entrepreneuren vorbei auf Platz 1 in der China Hurun Rich List schießen. Für 2021 nun kann Hui als der größte Verlierer unter Chinas Unternehmensmilliardären gelten. Sein Papiervermögen ist auf weniger als 6 Mrd. geschrumpft, und Aussichten auf eine positive Wende gibt es wohl nicht. Noch weiß man nicht, ob die Peking in große Verlegenheit stürzende Evergrande-Krise auch ein persönliches Nachspiel für Hui haben wird. Eines ist aber sicher, nämlich dass er nie wieder bei wichtigen politischen Ereignissen in den vordersten Reihen der von der Parteiführung geladenen Gäste sitzen wird.