Twitch bekommt einen neuen Chef
Von Karolin Rothbart, Frankfurt
Anderen Leuten beim Zocken von Computerspielen zuschauen − und das durchschnittlich 95 Minuten am Tag. Was für den einen oder anderen wie eine etwas bizarre Freizeitbeschäftigung klingt, hat Twitch-Mitgründer Emmett Shear in den vergangenen Jahren zu einem Milliardengeschäft hochgezogen. Nun will der Informatiker und Yale-Absolvent als CEO der Plattform zurücktreten. Twitch fühle sich für ihn oft an „wie ein Kind, das ich großgezogen habe“, schrieb Shear in einem Blogbeitrag. Da er jetzt aber Vater eines echten Kindes geworden ist, wolle er sein Amt mit sofortiger Wirkung an den derzeitigen President Daniel Clancy übergeben.
Der frühere Google- und Nasa-Manager war 2019 zu Twitch gestoßen. Zu dem Zeitpunkt hatte das Unternehmen, das einst unter dem Namen Justin.TV gegründet worden war, gerade die Milliardenmarke beim Jahresumsatz geknackt. Zusammengerechnet verbrachten die Nutzer schon in dem Jahr 11 Milliarden Stunden auf der Plattform. 2022 war es mehr als doppelt so viel − wobei das Spiel League of Legends mit Abstand am häufigsten angeschaut wurde.
Videospiele sind zwar mit die beliebtesten, aber bei weitem nicht die einzigen Inhalte, die auf Twitch gestreamt werden. Auch Kanäle, auf denen gekocht, musiziert, gebastelt oder wo einfach nur so mit den Zuschauern kommuniziert wird, ziehen zahlreiche Fans an. Dabei lohnt es sich sowohl für die Streamer als auch für die Plattform, die Zuschauer so lange wie möglich bei der Stange zu halten. Während Erstere im vergangenen Jahr nach Angaben des Unternehmens insgesamt mehr als 1 Mrd. Dollar verdient haben, belief sich der Umsatz für Twitch laut Schätzungen auf 2,8 Mrd. Dollar. Das Geld fließt vor allem aus Werbeeinnahmen und aus Gebühren für Bezahl-Abonnements, die sich die Streamer und Twitch teilen.
Die Frage, ob das Unternehmen wirklich die 970 Mill. Dollar wert ist, die der Online-Riese Amazon 2014 für die Übernahme auf den Tisch gelegt und damit Google ausgestochen hatte, stellt sich somit heute zwar nicht mehr. Dennoch kämpft auch Twitch mit den gleichen Problemen wie viele andere Player im Bereich Online-Entertainment: An die exorbitanten Wachstumsraten der vergangenen Jahre kommt die Firma wegen der zunehmenden Konkurrenz derzeit nicht mehr heran. Die 2,8 Mrd. Dollar Umsatz im vergangenen Jahr entsprachen gerade mal noch einem Zuwachs von knapp 5 % im Vergleich zu 2021. Im Jahr 2018 hatte sich der Umsatz fast verdreifacht.
Ärger in der Community
Twitch ist also auf Ideen für mehr Schwung bei der Erlösentwicklung angewiesen. Eine davon hatte President Clancy der Streamer-Community erst im September präsentiert − und war damit zum Teil auf Ablehnung der „Contentkreatoren“ gestoßen. Diese hatten sich nämlich gewünscht, die bisherige „Zweiklassengesellschaft“, in der einige wenige Top-Streamer 70 % statt der üblichen 50 % der Abo-Gebühren behalten dürfen, aufzulösen − und ausnahmslos allen Streamern 70 % zukommen zu lassen. 22 000 Kreatoren sollen sich auf einem Feedback-Forum dafür ausgesprochen haben.
Doch die Twitch-Führung entschied anders. Laut dem von Clancy vorgestellten Plan sollen die Streamer mit den „Premium-Verträgen“ ab Juni dieses Jahres zunächst 70 % der ersten 100 000 Dollar, die sie einnehmen, behalten dürfen. Alles, was danach kommt, soll dann zu 50 % − und nicht wie zuvor zu 30 % an die Plattform gehen.
Die Betroffenen waren darüber wie zu erwarten wenig begeistert. Womöglich dürfte der neue CEO somit zunächst mal vor der Aufgabe stehen, die Wogen in der Community zu glätten. Ob Manager Shear, der Twitch weiterhin beratend zur Seite stehen will, dabei helfen kann, wird sich zeigen.