Brüssel treibt Chip-Fertigung in Europa voran
Von Jan Bonhage*)
Die Europäische Kommission möchte mit dem Vorschlag eines EU-Chip-Gesetzes mehr Chip-Fertigungsanlagen in die EU holen, die europäische Kooperation im Halbleitersektor stärken und Halbleiterkapazitäten signifikant auf- und ausbauen. Zugleich sollen Krisenbefugnisse für staatliche Interventionen bei schweren Störungen der Halbleiterversorgung geschaffen werden.
Die Kommission verbindet mit ihrem Paket aus zwei Verordnungen, einer Empfehlung und einer Mitteilung hohe Ambitionen in der aktuellen Chip-Knappheit. Europa müsse seine Fähigkeiten im Halbleiterbereich ausbauen. Nur so könne es seine Versorgung sichern und seine Wettbewerbsfähigkeit und technologische Führung in der Zukunft behaupten.
In ihrer Lagebeschreibung geht sie so weit, Chips als „Herzstück der Wirtschaft und unseres täglichen Lebens“ zu bezeichnen, auf die die Unterbrechungen der Lieferkette bei Halbleitern die „Aufmerksamkeit der Welt“ gelenkt habe.
Starkes Signal
Entsprechend stark soll auch das Signal in den globalen Raum sein. Nur wenige Tage nach der Annahme des US Chips Act im Repräsentantenhaus veröffentlichte die Kommission ihren Vorschlag für den European Chips Act. Das geschätzte Gesamtvolumen „politikorientierter Investitionen“ von 43 Mrd. Euro bis 2030 aus 11 Mrd. Euro öffentlichen Investitionen für Forschung, Entwurfs- und Fertigungskapazitäten und angeschobener Eigenkapitalunterstützung sowie zugesagten Förderungen der Mitgliedstaaten zieht mit dem US-Ansatz von ca. 45,5 Mrd. Euro (allerdings in nur fünf Jahren bis 2026) nahezu gleich. Staatliche Investitionen in Halbleiter von 2015 bis 2025 von geschätzt ca. 130 Mrd. Euro in China und steuerliche Anreize in Südkorea von ca. 390 Mrd. Euro bis 2030 rücken diese Beträge etwas ins Verhältnis.
Die Errichtung neuer fortschrittlicher Produktionsanlagen im Halbleiterbereich ist äußert kapitalintensiv. Die EU-Kommission erkennt an, dass private Investitionen in solche Anlagen erhebliche öffentliche Unterstützung erfordern. In konkreten Fällen könne eine nachgewiesene Finanzierungslücke bis zu 100% mit öffentlichen Mitteln zu decken sein, wenn solche Anlagen andernfalls in Europa nicht errichtet würden. Sie benennt weitere Leitplanken für die Genehmigung solcher Beihilfen nach dem EU-Primärrecht.
Damit signalisiert die Europäische Kommission hohe Bereitschaft zur Genehmigung von Beihilfen auch jenseits der bestehenden Fördermöglichkeiten, die bislang teils auf Forschung & Entwicklung beschränkt waren, teils den hohen Anforderungen und langen Zeitläufen für Important Projects of Common European Interest (IPCEI) unterliegen, teils nur deutlich niedrigere Förderquoten ermöglichen.
Weitere Vorteile, zum Beispiel beschleunigte Genehmigungsverfahren und bevorzugter Zugang zu künftig errichteten Pilotanlagen sollen mit einer Anerkennung als „offener EU-Fertigungsbetrieb“ oder „integrierte Produktionsstätte“ verbunden sein. Offene EU-Fertigungsbetriebe setzen einen erheblichen Teil ihrer Fertigungskapazität zur Produktion für andere Industrieakteure ein. Integrierte Produktionsstätten entwerfen und fertigen Komponenten für ihre eigenen Märkte.
Diese Vorteile erhöhen im globalen Wettbewerb die Attraktivität der europäischen Standorte und gleichen Finanzierungslücken, wo nötig, aus. Es versteht sich, dass diese Förderungen hohen Anforderungen unterliegen und gegebenenfalls mit Beschränkungen einhergehen.
Eine andere Sprache sprechen die vorgeschlagenen Befugnisse der Kommission. Bei Aktivierung der Krisenstufe sollen Unternehmen zur Annahme und vorrangigen Behandlung von Aufträgen verpflichtet werden können, um das Funktionieren kritischer Sektoren wie Gesundheit, Verkehr, Energie oder Sicherheit zu gewährleisten.
Mögliche Adressaten einer solchen Verpflichtung sind die offenen EU-Fertigungsbetriebe und integrierten Produktionsstätten, aber auch andere Halbleiterunternehmen, die die Inpflichtnahmemöglichkeit beim Erhalt öffentlicher Unterstützung akzeptiert haben.
Die Verpflichtung soll jeder anderen Erfüllungsverpflichtung nach privatem oder öffentlichem Recht vorgehen und von einer Haftung für notwendige Verstöße gegen vertragliche Pflichten zur Einhaltung der vorrangigen Auftragserfüllung befreien. Wenn ein in der EU niedergelassenes Halbleiterunternehmen einer Pflicht zur vorrangigen Auftragserfüllung in einem anderen Land unterliegt, kann die Kommission auch diesem eine vorrangige Auftragsannahme und -erfüllung auferlegen. Dies sind gravierende staatliche Interventionen.
Sehr hoher Preis
Ein ambitioniert substanzielles Fördern und Unterstützen der Technologieentwicklung und -ansiedlung in Europa erscheint erforderlich und ausgewogen, ein EU first mittels staatlicher Inpflichtnahme auch bei Lieferengpässen hingegen ein sehr hoher – vielleicht doch zu hoher – Preis. Dies mag im europäischen Gesetzgebungsverfahren im Parlament oder Rat noch in Frage gestellt werden; die geostrategischen und industriepolitischen Vorzeichen stehen aktuell freilich nicht danach.
*) Dr. Jan Bonhage ist Partner bei Hengeler Mueller in Berlin und Brüssel.