Bundesgerichthof nutzt erstes Leitentscheidungsverfahren
Am 26. September 2024 hat der Bundestag den Gesetzesentwurf zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens angenommen. Danach kann der Bundesgerichtshof (BGH) über grundsätzliche Rechtsfragen in gleichgelagerten Fällen entscheiden, unabhängig davon, ob die Parteien die Revision zurücknehmen oder sich der Rechtsstreit auf andere Weise erledigt.
Das Gesetz ist am 24. Oktober 2024 verkündet worden. Nur etwa eine Woche danach hat der VI. Zivilsenat des BGH von seinen neuen Kompetenzen Gebrauch gemacht und das erste Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt.
Erhebliche Belastungen durch Massenverfahren
Im Dezember 2023 waren insgesamt 5.616 Dieselverfahren beim BGH anhängig, etwa genauso viele Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden gehen jährlich in allen anderen zivilrechtlichen Bereichen ein. Trotz einer Vielzahl von Verfahren gibt es nur wenige höchstrichterliche Entscheidungen in Massenverfahren. Viele Verfahren werden durch Vergleich beendet oder es erfolgt eine Revisionsrücknahme aus prozesstaktischen Gründen („Flucht in die Revision“).
Derartige Massenverfahren, bei denen mit Einzelklagen eine Vielzahl gleichgelagerter Ansprüche geltend gemacht werden, stellen eine erhebliche Belastung für die Instanzgerichte dar. Ohne die höchstrichterliche Klärung der Fälle, bei denen es meistens um die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen geht, entsteht ein Flickenteppich unterschiedlicher Entscheidungen, der nicht zur Rechtssicherheit verhilft.
Um die Instanzgerichte zu entlasten und den Auftrag der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu erfüllen, hat der Gesetzgeber auf die Gegebenheiten reagiert und ein Leitentscheidungsverfahren beim BGH eingeführt.
Keine formelle Bindungswirkung
Die Besonderheit des neuen Leitentscheidungsverfahrens liegt darin, dass es auch in den Fällen durchgeführt werden kann, in denen die Revision zurückgenommen wird oder sich auf andere Weise als durch Urteil erledigt. Eine Rücknahme der Revision wiederum ist bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung noch möglich, mit der Folge, dass eine Leitentscheidung dann nicht mehr ergehen kann.
Die Leitentscheidung des BGH entfaltet keine formelle Bindungswirkung. Sie wirkt sich auch nicht auf das zugrundeliegende Revisionsverfahren aus; dieses kann entweder durch herkömmliches Revisionsurteil oder Rücknahme der Revision bzw. anderweitige Erledigung beendet werden.
Orientierung für die Instanzgerichte
Dennoch dient die Leitentscheidung als Orientierung für die Instanzgerichte. Diese können insbesondere nach Anhörung der Parteien die Aussetzung des Verfahrens bis zur Erledigung des Leitentscheidungsverfahrens anordnen. Widerspricht eine Partei der Aussetzung und macht hierfür gewichtige Gründe glaubhaft, die gegen eine Aussetzung sprechen, hat diese zu unterbleiben. Die Hürden hierfür sind jedoch hoch. Die Gesetzesbegründung nennt etwa erhebliche wirtschaftliche Gründe, wie eine drohende Insolvenz einer Partei, oder persönliche Gründe, wie das hohe Alter einer Partei.
Auswirkungen des neuen Gesetzes
Die Bundesregierung geht in der Gesetzesbegründung davon aus, dass jährlich mit etwa 25 Leitentscheidungen durch den BGH zu rechnen ist. Der VI. Zivilsenat hat innerhalb einer Woche nach Verkündung des Gesetzes bereits Gebrauch von seiner Kompetenz gemacht und ein Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt.
Die erwartete Leitentscheidung hält die Instanzgerichte jedoch nicht davon ab, ein Urteil zu erlassen. In solchen Fällen ist aufgrund – der vom BGH zum Ausdruck gebrachten – grundsätzlichen Bedeutung der Sache jedenfalls die Revision zuzulassen. Auch nach Ergehen einer Leitentscheidung sind die Instanzgerichte gehalten zu prüfen, ob diese auf den konkreten Einzelfall angewendet werden kann.
Ebenso wie bei obiter dicta des BGH, die rein faktische Bedeutung für Entscheidungen der Instanzgerichte haben, steht zu erwarten, dass Leitentscheidungen des BGH der Praxis transparent machen, wie der jeweilige Senat in Zukunft über gleichgelagerte Fälle entscheiden wird. Dies kann zu einer einheitlichen Rechtssprechungslinie und somit zu mehr Rechtssicherheit beitragen.
Leitentscheidungsverfahren im Data Scraping-Komplex
Am 31. Oktober 2024 hat der VI. Zivilsenat des BGH im Data Scraping-Komplex das bei ihm anhängige Revisionsverfahren Az. VI ZR 10/24 zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt.
Dem Komplex liegen tausende Verbraucherklagen gegen ein Social Media-Unternehmen aufgrund eines Scraping-Vorfalls zu Grunde. Unbekannte Dritte machten sich den Umstand zunutze, dass Nutzer-Profile, in Abhängigkeit ihrer Suchbarkeits-Einstellung, mithilfe der jeweiligen Telefonnummern gefunden werden können. Die unbekannten Dritten nutzten automatisierte Tools, um über die sog. Kontakt-Import-Funktion eine Vielzahl von Telefonnummern hochzuladen. Anschließend verknüpften sie die Nummern mit den öffentlich zugänglichen Daten der jeweiligen Nutzerkonten und griffen sie ab (sog. Scraping).
Schadenersatzanspruch aus Datenschutzverletzung vorgebracht
Die betroffenen Kläger machen Schadenersatzansprüche wegen der vermeintlichen Verletzung des Art. 82 Abs. 1 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sowie Feststellungs-, Unterlassungs- und Auskunftsansprüche in einer Vielzahl von Verfahren vor den Instanzgerichten geltend; Art. 82 Abs. 1 DSGVO sieht materiellen und immateriellen Schadenersatz bei Pflichtverstößen im Zusammenhang mit einer Datenverarbeitung vor.
In seiner mündlichen Verhandlung vom 11. November 2024 kann der VI. Zivilsenat sich noch nicht positionieren, eine Entscheidungstendenz erkennen lassen oder direkt eine Leitentscheidung treffen. Im Ergebnis wird er sich im Rahmen der Leitentscheidung insbesondere dahingehend verhalten müssen, ob ein vermeintlicher Kontrollverlust überhaupt einen Schadenersatz nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO auslösen kann und welche Substantiierungsanforderungen seitens der Kläger grundsätzlich an einen solchen Kontrollverlust zu stellen sind.
Im Übrigen wird er als Revisionsinstanz entscheiden, ob der Kläger des Revisionsverfahrens, das als Leitentscheidungsverfahren dient, die Substantiierungsanforderungen erfüllt hat, sofern die Revision nicht zurückgenommen oder anderweitig erledigt wird. Sollten u.a. der bloße Kontrollverlust nicht ausreichen und / oder die Substantiierungsanforderungen nicht erfüllt sein, bestünden danach keine Ansprüche des Klägers des Revisionsverfahrens auf Schadenersatz oder Feststellung künftiger immaterieller Schäden.
Lässt der VI. Zivilsenat am 11. November 2024 zumindest eine Entscheidungstendenz erkennen, ist zu erwarten, dass die Instanzgerichte die bei ihnen anhängigen Verfahren im Data Scraping-Komplex sowie in gleichgelagerten Komplexen bis zur Leitentscheidung aussetzen werden.
Zunehmender Druck auf Instanzgerichte durch Masseverfahren
Ob die Senate des BGH in gleichem Tempo auch in anderen Verfahren vorgehen werden, ist aktuell nicht absehbar. Der Druck weiterer Massenverfahren auf die Instanzgerichte wächst jedenfalls zunehmend.
Mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu den Anforderungen an Art. 82 DSGVO stieg auch die Anzahl anhängiger Gerichtsverfahren, die angebliche Datenschutzverstöße wegen unbefugter Datenabflüsse sowie sogenanntes Data Scraping zur Grundlage haben. Dies überrascht vor dem Hintergrund der Warnungen des Bundeskriminalamtes (BKA) in seinem BKA Bundeslagebild Cybercrime 2023 nicht. Das BKA macht deutlich, dass Straftaten im Bereich der Cyberkriminalität auf einem hohen Niveau sind und die Anzahl der Taten kontinuierlich ansteigt.
Auch Finanzwirtschaft im Fokus
Im Bereich der Finanzwirtschaft steigt das Potential von Massenverfahren ebenfalls kontinuierlich. Auch wenn Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) mangels Revisionsmöglichkeit nicht von § 552b ZPO umfasst sind, können sich Massenverfahren im Bereich des Bankensektors auch anderweitig ergeben, etwa wegen angeblich unzulässiger Klauseln in Bankverträgen. In Zukunft ist vor allem auch bei ESG-Verstößen mit einer Zunahme von Einzelklagen zu rechnen, wenn etwa Finanzprodukte nachhaltiger dargestellt werden, als sie es vermeintlich sind. Bereits heute haben Verbraucher schon die Möglichkeit, gegen irreführende Werbung mit umweltbezogenen Aussagen (sog. Greenwashing) vorzugehen. Diese Möglichkeit wird insbesondere mit der erwarteten Einführung der Green Claims Directive noch ausgeweitet. Auf deren Grundlage können Verbraucher und Verbraucherverbände Unterlassungs-, Auskunfts- und Schadenersatzansprüche geltend machen.