Insolvenz

Bundes­gerichtshof erleichtert die Feststellung der Zahlungs­unfähigkeit

Insolvent oder (noch) nicht – das ist oftmals eine knifflige Frage. Der Bundesgerichtshof bietet mit einem vereinfachten Berechnungsansatz eine Orientierung.

Bundes­gerichtshof erleichtert die Feststellung der Zahlungs­unfähigkeit

Von Dirk Herzig und Stefan Höge*)

Seit fast 75 Jahren wird das Lied „Wer soll das bezahlen?“ des Kölner Sängers Jupp Schmitz auch außerhalb des Karnevals gesungen. Bezogen auf das Wirtschaftsleben steht es sinnbildlich für die Frage, ab wann ein Unternehmen seine Verbindlichkeiten nicht mehr bezahlen kann – es also zahlungsunfähig ist.

Eine Antwort liefert der II. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) in einer kürzlich veröffentlichten Leitsatzentscheidung. Konkret geht es darin um die Methode, mit der die Zahlungsunfähigkeit als maßgeblicher Insolvenzgrund festgestellt werden kann. Zahlungsunfähigkeit bedeutet, dass ein Unternehmen seine fälligen und innerhalb von drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten nicht mehr bezahlen kann.

Mit ihrer Entscheidung legen die Karlsruher Richter fest, dass es neben der seit dem Jahr 2005 etablierten Methode der Berechnung mittels erweitertem Liquiditätsstatus nun eine weitere Möglichkeit gibt, um festzustellen, ob ein Unternehmen zahlungsunfähig ist. Bei dieser Methode ist gemäß der Leitsatzentscheidung an mehreren Stichtagen innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen jeweils lediglich ein einfacher Liquiditätsstatus mit Gegenüberstellung der Aktiva I (konkret zum Stichtag präsente Geldmittel aus Kasse, Bank und Forderungen) und der Passiva I (konkret zum Stichtag fällige Verbindlichkeiten) zu erstellen. Wenn an diesen Stichtagen jeweils eine erhebliche Unterdeckung – also eine Liquiditätslücke größer als 10% – vorliegt, ist das Unternehmen zahlungsunfähig.

Dieser Berechnungsansatz stellt im Vergleich zum erweiterten Liquiditätsstatus (mit Gegenüberstellung von Aktiva I zuzüglich im dreiwöchigen Prognosezeitraum zufließende Aktiva II und von Passiva I zuzüglich im dreiwöchigen Prognosezeitraum fällig werdende Passiva II) de facto eine Erleichterung dar.

Für Insolvenzverwalter sowie für Geschäftsführer, Vorstände und Sanierungsberater von krisenbehafteten Unternehmen hat die Entscheidung des BGH in der Praxis eine unterschiedliche Relevanz.

Für Insolvenzverwalter ist der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit im Hinblick auf die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen (zu Auszahlungen, die zur Gläubigerbenachteiligung führten) oder von Haftungsansprüchen (zu Auszahlungen, die zur Masseschädigung führten) von entscheidender Bedeutung.

Die BGH-Entscheidung erleichtert die Darlegungslast der Insolvenzverwalter insbesondere bei Unternehmen, bei denen die Buchhaltungsdaten sowie zukunftsgerichtete Finanzpläne nicht vollumfänglich vorliegen, und trägt zudem dem seitens der Insolvenzordnung geforderten wesentlichen Prinzip des Gläubigerschutzgedankens Rechnung.

Erweiterter Liquiditätsstatus

Für Geschäftsführer und Vorstände von Unternehmen, die sich in einer Krise befinden, ist der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit relevant, da sie in diesem Fall innerhalb von drei Wochen einen Insolvenzantrag stellen müssen. Unterlassen sie dies, sind sie unter Umständen für durch Auszahlungen entstandene Masseschädigungen haftbar, wobei im Zusammenhang stehende Kriterien wie ernsthafte Sanierungsbestrebungen und der Masse zufließende Gegenleistungen zu berücksichtigen sind.

Die BGH-Entscheidung führt in der Praxis tendenziell zu verkürzten Berechnungen, die der erforderlichen Sorgfaltspflicht nicht genügen und bei laufender Geschäftstätigkeit (ex ante) die allgemein zur Beurteilung der Zahlungsfähigkeit (Liquiditätsdeckungsgrad in Prozent) geforderten Finanzpläne als Instrumente des in der Krise gebotenen verschärften Controllings außer Acht lassen. Hier ist – auch im Hinblick auf Zivilstreitigkeiten mit D&O-Versicherungen und parallel laufende Strafverfahren – die vom IX. Senat (zuständig für Insolvenzrecht) bestätigte und vom Institut der Wirtschaftsprüfer propagierte Methode der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels erweitertem Liquiditätsstatus weiterhin State of the Art.

Für Sanierungsberater ist der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit unter anderem bei einer vorinsolvenzlichen StaRUG-Restrukturierung und bei einem sogenannten Schutzschirmverfahren von entscheidender Bedeutung. Diese Verfahren können jeweils nur bei drohender Zahlungsunfähigkeit beantragt werden.

Die BGH-Entscheidung führt auch hier tendenziell zu verkürzten Berechnungen, die der erforderlichen Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht gerecht werden. Insbesondere hier sind die Finanzpläne zwecks Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten für Finanzplandefizite bzw. Finanzplanüberhänge als wesentliches Instrument anzusehen. Auch hier ist demnach die vom IX. Zivilsenat bestätigte und vom IDW propagierte Methode der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels erweitertem Liquiditätsstatus weiterhin relevant.

Es zeigt sich, dass bei vorliegender Ordnungsmäßigkeit und Vollständigkeit der Buchführung der seit dem Jahr 2005 etablierte erweiterte Berechnungsansatz weiterhin zu präferieren ist, um die dynamische Liquiditätsentwicklung von Unternehmen realitätsnah abbilden zu können. Gleichwohl liefert der vereinfachte Berechnungsansatz des II. Zivilsenates diesbezüglich eine Orientierung.

*) Dr. Dirk Herzig ist Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht und Partner von Schultze & Braun. Stefan Höge ist Kreditanalyst und seit 1994 mit der Erstellung von Zahlungsunfähigkeitsgutachten befasst.