Miriam Bouazza

„Der Starke darf den Schwachen nicht übervorteilen“

Ethische Grundsätze spielen sowohl bei ESG- als auch bei islamischen Finanzprodukten eine große Rolle. Doch es gibt auch gravierende Unterschiede.

„Der Starke darf den Schwachen nicht übervorteilen“

Frau Bouazza, erlebt Islamic Finance derzeit einen vergleichbaren Aufschwung wie ESG?

Das ist je nach Region sehr unterschiedlich. In Großbritannien etwa gibt es ein großes und ausdifferenziertes Angebot an islamischen Finanzprodukten, Deutschland hingegen zieht erst langsam nach. Größte Märkte sind traditionell der arabische und der asiatische Raum.

Was sind die Gründe für die Zurückhaltung hierzulande?

Zum einen leben etwa in Großbritannien mehr Muslime als in Deutschland, zum anderen war man dort von Anfang an offener für die Prinzipien von Islamic Finance. In Deutschland herrschten lange Zeit Berührungsängste.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen ESG- und islamischen Finanzprodukten?

Der Buchstabe „S“ in ESG, also der soziale Aspekt, ist die Basis der islamischen Finanzregeln. Knapp gefasst: Der Starke darf den Schwachen nicht übervorteilen. So will das islamische Zinsverbot vermeiden, dass arme Menschen durch das Zahlen von Zinsen immer ärmer werden. Letztlich geht es hier um eine Stärkung der sozialen Gerechtigkeit. In einer islamischen Finanzierung müssen sich deshalb Darlehensgeber und Darlehensnehmer Risiken und Chancen des Geschäfts teilen. Daneben gibt es eine Reihe von Ausschlüssen, die stark an ESG-Investment-Produkte erinnern: Nicht erlaubt sind Investitionen in Waffen, Alkohol, Pornografie sowie weitere Produkte und Aktivitäten, die als verboten (haram) gelten. Schariakonforme Finanzprodukte durchlaufen also ein Screening, um diese Branchen zu vermeiden.

Wo liegen die Unterschiede?

Islamic Finance entspringt der Scharia, einem religiösen Werte- und Rechtssystem, basierend auf dem Koran sowie den Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohamed. Das Jahrhunderte alte Regelwerk hat sich über lange Zeit praktisch nicht verändert. ESG hingegen ist eine dynamische Bewegung, die ihre Regeln bei Bedarf auch in Frage stellt und neu definiert. Beispiel Waffen: Investitionen in Waffenhersteller könnten etwa im Zuge von Waffenlieferungen an die Ukraine oder im Rahmen einer Regelung, die einen 10-%-Anteil an eigentlich nicht konformen Aktien im Produkt erlaubt, als ESG-konform gelten. Eine solche Flexibilität ist der islamischen Finanzwissenschaft fremd. Was heute haram ist, das bleibt auch morgen haram.

Macht der aktuelle Zinsanstieg islamische Finanzierungen mit ihrem Zinsverbot interessanter?

Die Scharia verbietet es, für die bloße Bereitstellung von Kapital Geld zu nehmen. Eine islamische Finanzierung ist aber kein Kredit ohne Marge – das wäre für den Kreditgeber unattraktiv –, sondern eine Form der Zusammenarbeit. Beispiel Immobilienfinanzierung: In der Scharia gibt es mehrere Finanzierungsmöglichkeiten. Vor allem in Europa verbreitet ist das Diminishing-Musharakah-Konzept. Hierbei bildet der Kunde zusammen mit der Bank eine Partnerschaft zum Erwerb einer Immobilie. Im Grundbuch wird dabei entweder der Kunde oder die Bank eingetragen. Dem Kunden wird die Immobilie zum Gebrauch überlassen. Im Folgenden zahlt der Kunde monatliche Raten, die aus zwei Teilen bestehen. Der erste Teil ist die Miete, die der Kunde für die Benutzung der Immobilie bezahlt. Mit dem zweiten Teil kauft der Kunde der Bank Anteile an der Partnerschaft ab. Mit der Zeit sinkt der Mietanteil infolge der immer höher werdenden Anteile des Kunden, bis die Bank schließlich die Immobile an ihn überträgt. Die Bank nimmt die Immobilie in ihre Bücher, mit allen Vor- und Nachteilen. Hierfür eine Gegenleistung zu erhalten, ist schariakonform. Allerdings kann eine islamische Finanzierung teurer sein als die üblichen Alternativen, etwa wegen des doppelten Eigentumsübergangs der Immobilie.

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie stark ist Islamic Finance bei ihnen verbreitet?

Für Muslime, die das Zinsverbot und die anderen Regeln streng auslegen, gibt es heute eine wachsende Angebotspalette. Institute und Anlageprodukte kommen häufig aus dem Ausland, sind aber in steigender Zahl auch in Deutschland erhältlich.

Miriam Bouazza ist Partnerin der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und Leiterin der Solution Line Legal Financial Services.

Die Fragen stellte Helmut Kipp.

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