EU macht Menschenrechte zur Chefsache
Von Lothar Harings*)
Am 23. Februar 2022 hat die EU-Kommission den Entwurf der sogenannten „EU-Lieferkettenrichtlinie“ vorgestellt. Brüssel verfolgt damit ehrgeizige Ziele: Es geht um nichts Geringeres als die Verpflichtung der europäischen Wirtschaft, ihre globalen Aktivitäten an Menschenrechts- und Umweltstandards auszurichten. Die EU-Richtlinie ist ambitionierter als ihr deutsches Gegenstück, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Sie stellt deutsche Unternehmen damit vor neue Herausforderungen.
Unternehmen müssen den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards in ihre firmeneigenen Richtlinien aufnehmen. Dazu müssen sie in einem Verhaltenskodex (Code of Conduct) festschreiben, welche Verfahren sie einsetzten wollen, um allen nötigen Sorgfaltspflichten nachzukommen. Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Unternehmensleitungen Menschenrechte, Klimaschutz- und Umweltbelange in ihre langfristigen Entscheidungen einbeziehen.
Finanzbranche in der Pflicht
Bemerkenswert ist die persönliche Verantwortlichkeit der Geschäftsführung: Unternehmen müssen das Einhalten der Sorgfaltspflichten mit den Gehältern des Managements verknüpfen. So ist in dem Entwurf eine Kopplung der Vergütung an die Umsetzung eines von den Verantwortlichen zu entwerfenden Sorgfalts- oder Nachhaltigkeitsplans vorgeschrieben. Dieser muss ein Geschäftsmodell vorsehen, das mit dem Übergang zu nachhaltigem Wirtschaften und der Begrenzung des 1,5-Grad-Ziels des Pariser Klimaübereinkommens im Einklang steht. Ähnliche Entwicklungen konnten in den letzten Jahren in der Wirtschaft beobachtet werden – freilich auf freiwilliger Basis.
Besonders in die Pflicht genommen wird in diesem Zusammenhang die Finanz- und Versicherungswirtschaft: Bei der Vergabe von Krediten und Finanzierungen sowie der Bereitstellung von Versicherungen und Rückversicherungen sollen menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken analysiert werden. Eine entsprechende Verpflichtung auf nachhaltige Investments ist aus der Taxonomie-Verordnung bekannt. Banken und Versicherungen wird damit eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung der Verpflichtungen zugewiesen.
Unternehmen sollen haften
Ein Unternehmen soll auch zivilrechtlich haften, wenn es seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkommt und es infolgedessen zu einem Schaden kommt. Das gilt für den eigenen Geschäftsbereich sowie für Tochtergesellschaften und unmittelbare Zulieferer. In Ausnahmefällen kann eine Haftung aber auch für Schäden bei mittelbaren Zuliefern entstehen. Klageberechtigt sind sowohl die zuständigen Aufsichtsbehörden als auch Betroffene. Im deutschen Lieferkettengesetz wurde die Haftung von Unternehmen in der Endphase des Gesetzgebungsverfahrens ausdrücklich ausgeschlossen, um einen Konsens zwischen den damaligen Koalitionspartnern herzustellen.
Die EU verlangt von Unternehmen zudem eine umfassendere Risikoanalyse. Das deutsche LkSG verpflichtet Unternehmen in der Regel lediglich, für den eigenen Geschäftsbereich und die unmittelbaren Zulieferer eine Risikoanalyse durchzuführen. Der EU-Richtlinienentwurf bezieht die gesamte Wertschöpfungskette ein. Einziges Kriterium ist, dass eine etablierte Geschäftsbeziehung – unmittelbar oder mittelbar – besteht. Wann eine „mittelbare etablierte Geschäftsbeziehung“ nach zivilrechtlichen Maßstäben bestehen soll, bleibt dabei völlig unklar und der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vorbehalten. Zumindest schränkt die Kommission ein, dass die Voraussetzungen für eine solche Geschäftsbeziehung nicht erfüllt sind, wenn sie einen vernachlässigbaren oder lediglich untergeordneten Teil der Wertschöpfungskette darstellt.
Mit der Umsetzung der sich aus der Richtlinie ergebenden Pflichten, also der Analyse auf menschenrechtliche und Umweltrisiken im Unternehmen, dem Ergreifen von Präventions- sowie im Zweifelsfall Abhilfemaßnahmen in nationales Recht erstreckt sich die Risikoanalyse folglich auf alle Zuliefererbetriebe in der Wertschöpfungskette. Sie wird daher zwangsläufig zu mehr Transparenz in der Lieferkette führen. Klassische Zwischenhändler und Importeure fürchten vor diesem Hintergrund um ihr Geschäftsmodell.
Hinsichtlich der geschützten Rechtspositionen verweist der vorliegende Entwurf – wie das deutsche Gesetz – auf internationale Übereinkommen. So fällt das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit unter den Schutz der Richtlinie, ebenso das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, das Vereinigungsrecht sowie das Recht auf einen angemessenen Lohn. Im Umweltbereich sind etwa Vorgaben hinsichtlich der Produktion von Chemikalien wie Quecksilber sowie persistente organische Schadstoffe und der Umgang mit Abfällen erfasst.
Kleinere Firmen einbezogen
Auch Unternehmen, für die das deutsche LkSG nicht gilt, fallen nun unter die EU-Richtlinie. So greift das deutsche LkSG ab 2023 nur für Unternehmen, die mindestens 3000 Arbeitnehmer beschäftigen, und ab 2024 für Unternehmen ab 1000 Arbeitnehmern. Der EU-Ansatz bezieht kleinere Unternehmen mit ein: Zunächst fallen alle Unternehmen, die mindestens 500 Mitarbeiter und mehr als 150 Mill. Euro Jahresumsatz aufweisen, in den Anwendungsbereich der Richtlinie.
Noch weiter ausgedehnt wird der Anwendungsbereich für Unternehmen, die in bestimmten, definierten Risikosektoren tätig sind. Klassische Risikobranchen in diesem Sinne sind Bergbau und die Gewinnung von Bodenschätzen und Rohstoffen einschließlich Erdöl, Erdgas sowie Zwischenprodukte. Weitergehend zählen dazu aber auch die Produktion oder der Großhandel mit Textilien und vergleichbaren Produkten ebenso wie die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft und schließlich die Produktion und der Handel mit Lebensmitteln. In diesen Risikosektoren werden Unternehmen bereits dann erfasst, wenn sie mehr als 250 Mitarbeiter beschäftigen und einen Jahresumsatz von mehr als 40 Mill. Euro erzielen.
Sogar drittländische Unternehmen werden bei Überschreiten bestimmter Umsatzgrenzen in den Anwendungsbereich der Richtlinie einbezogen; sie müssen einen autorisierten Beauftragten innerhalb der EU benennen, der Ansprechpartner für die Überwachungsbehörden ist.
Obwohl die EU-Kommission davon ausgeht, dass nur 1% aller Unternehmen in der EU unmittelbar von der Lieferkettenrichtlinie betroffen sind, gilt auch hier, dass die tatsächliche Betroffenheit deutlich höher liegt. Wie das deutsche LkSG zielt die Regelung darauf, bestehende Sorgfaltspflichten in der gesamten Lieferkette abzubilden. Insofern werden gerade in den Risikosektoren viele Unternehmen ihre Prozesse ändern bzw. anpassen müssen, obwohl sie weder die Schwellenwerte des deutschen LkSG noch die der Richtlinie erreichen.
Der Entwurf reiht sich in die bereits vorliegenden ambitionierten EU-Pläne zum nachhaltigen Wirtschaften ein. Insbesondere gilt das für den Green Deal, die Taxonomie-Verordnung und den Richtlinienentwurf für die Nachhaltigkeitsberichterstattung, auf die in den Erläuterungen ausdrücklich Bezug genommen wird. Die europäische Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen.
Erheblicher Aufwand
Gleichwohl dürfen Menschenrechte und unternehmerische Interessen nicht gegeneinander ausgespielt werden: Je früher Unternehmen ihre Verantwortung für Menschenrechte und Umwelt erkennen und Maßnahmen zum Schutz dieser in ihren Geschäftsbereichen und Lieferketten ergreifen, desto besser sind sie für die Zukunft aufgestellt. Den Aufwand hierfür sollten Unternehmen nicht unterschätzen. Sie sollten sich daher nun zügig einen Überblick über die eigenen Lieferketten verschaffen und einen Fahrplan erstellen.
*) Dr. Lothar Harings ist Partner von GvW Graf von Westphalen.