GastbeitragKartellrecht

Lebhafte Debatte um Kartell-Kronzeugen

Kartellbehörden werben für ihre Kronzeugenprogramme. Die Kommunikationsoffensive zielt darauf ab, Unsicherheit unter potenziellen Kartelltätern zu verbreiten und Unternehmen zu mehr Kontrollen und Compliance-Maßnahmen zu bewegen.

Lebhafte Debatte um Kartell-Kronzeugen

Lebhafte Debatte um Kartell-Kronzeugen

Fester Bestandteil im Ermittlungsarsenal – Diskussion um mögliche Reformen – Behörden haben aufgerüstet, aber Kapazitäten bleiben begrenzt

Von Christoph Wünschmann und Florian von Schreitter *)

Seit einigen Monaten nutzen die Kartellbehörden die öffentliche Bühne wieder vermehrt dazu, auf ihre Kronzeugenprogramme und deren Attraktivität hinzuweisen. Die Botschaft an Unternehmen ist klar: Melden Sie Kartellverstöße und entgehen Sie dadurch möglichen Strafen! Gleichzeitig betonen die Kartellbeamten, dass sie auch ohne solche Selbstanzeigen genügend Beweismaterial für Kartellverfahren zusammentragen können. Gemischte Signale also – und Symptom einer Debatte, die dringend weitergeführt werden muss.

Fester Bestandteil im Ermittlungsarsenal

Kronzeugenprogramme sind seit vielen Jahren ein fester Bestandteil im Ermittlungsarsenal der Kartellbehörden weltweit. Das Prinzip ist einfach: Wer als Erster aus einem laufenden Kartell aussteigt und dies den Behörden meldet, muss kein Bußgeld zahlen. Das nimmt Kartellen die Stabilität. Denn Kartellbußgelder erreichen zum Teil dreistellige Millionenhöhen. Der Bußgelderlass ist also ein immenser wirtschaftlicher Vorteil. Es verwundert daher nicht, wenn z.B. in Deutschland rund 50% der aufgedeckten Kartelle auf Kronzeugenanträge zurückgehen; zeitweise lag die Quote sogar bei rund 70%. Ähnlich ist die Situation in Brüssel, wo die Kartellermittler der EU-Kommission den Großteil ihrer Arbeit auf „Leniency Applications“ stützen. Leniency, also „Milde“ oder „Gnade“, zu gewähren, ist damit ein höchst wirksames Mittel zur Kartellbekämpfung.

„I want you to panic“

Seit einigen Jahren ist die Zahl der Kronzeugenanträge vielerorts rückläufig. Die Gründe hierfür sind unter Praktikern umstritten. Von zu großen Unsicherheiten bei der Stellung von Kronzeugenanträgen, insbesondere im internationalen Kontext, über die Furcht vor negativen Konsequenzen außerhalb der Kartellbußgelder (insbesondere Kartellschadensersatzansprüche geschädigter Kunden) bis hin zu schlicht besser funktionierender Compliance und einem allgemeinen Rückgang der Kartellaktivität wird vieles diskutiert.

Zuletzt meldete die EU-Kommission jedoch wieder eine Zunahme von Kronzeugenanträgen. In den Jahren 2021 bis 2023 habe es jährlich einen Anstieg gegeben. Damit werden zwei für die Kommission sehr erfreuliche Botschaften gleichzeitig platziert. Erstens: Das System funktioniert, Reformbedarf gibt es nicht. Und zweitens, frei nach Greta Thunberg: „I want you to panic!“. Denn wer ein konkretes Verfolgungsrisiko sieht, erwägt eher die Selbstanzeige. Eine Brüsseler Kartellverfolgerin brachte es kürzlich griffig auf den Punkt: „Leniency feeds leniency“. Denn stehen die Behörden erst einmal vor der Tür, ist ein Bußgelderlass in der Regel ausgeschlossen.

Behörden haben aufgerüstet

Und tatsächlich: Seit der Pandemie haben Kartellbehörden weltweit aufgerüstet und erheblich investiert. Die Kommission verwendet jährlich knapp 20 Mill. Euro auf ihre internen Ermittlungsressourcen – Tendenz steigend. Das Geld fließt in Werkzeuge zum Marktscreening, zur digitalen Datenanalyse, den Ausbau der sogenannten Whistleblower-Tools und das entsprechende Personal. Whistleblowing steht dabei besonders im Fokus. Auf den auch anonym nutzbaren Kommunikationsplattformen können Rechtsverstöße unabhängig vom Kronzeugensystem gemeldet werden.

In Brüssel führt das zu rund 200 Meldungen pro Jahr, auch durch Unternehmensinsider. Die Briten belohnen Informanten sogar finanziell – mit bis zu 250.000 Pfund. Damit wollen sich die Behörden von Kronzeugenanträgen emanzipieren.

Auf Konferenzen und in Interviews ist immer wieder von sog. „ex-officio-Ermittlungen“ die Rede, also einem Tätigwerden allein aufgrund eigener Ermittlungen und Initiative. Dazu bedarf es nicht immer intensiver Vorermittlungen oder fortgeschrittener KI-Tools. Manchmal reicht eine gründliche Internetrecherche, um einen ersten Verdacht zu erhärten – wie jüngst in Großbritannien, wo ein Verband von Nagelstudios offen für Preisabsprachen unter seinen Mitgliedern warb. Und auch größere Fische können ohne Kronzeugen ins Netz gehen: Die seit einigen Monaten laufenden internationalen Kartellermittlungen im Bereich „Duftstoffe“ waren ohne Kronzeugen ins Rollen gekommen.

Verbesserungspotenzial

Die Kommunikation solcher Erfolge hat freilich einen weiteren Effekt: Sie beeinflusst die Diskussion um mögliche Reformen der Kronzeugensysteme. Denn wenn die Zahlen stimmen, warum dann etwas ändern? Das aber ist zu kurz gedacht. Sichtbare Ermittlungstätigkeit erhöht zwar den Druck auf Kartellanten. Solche negativen Anreize müssen aber durch positive Anreize flankiert werden.

Kronzeugenprogramme leisten dies, es besteht aber Verbesserungspotenzial: Von praktischen Erleichterungen bei der (internationalen) Antragstellung über den Schutz vor Vergabesperren bei öffentlichen Ausschreibungen bis hin zum Schutz des Kronzeugen vor kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen. Diese sehen viele Praktiker nach wie vor als Hauptgrund für den Antragsrückgang. Denn die Gesamtschadenssumme, vor der derzeit auch ein Kronzeugenantrag nicht schützt, kann das eingesparte Bußgeld schnell übersteigen. Ganz zu schweigen von den Unternehmensressourcen, die für die Verteidigung gegen solche (Massen-)Klagen aufzubringen sind.

Vermeintlich simple und komplexe Fälle

Hierüber nachzudenken lohnt sich. Denn trotz aller Investitionen der Behörden in die Kartellverfolgung lassen sich nicht alle Kartelle „ex officio“ aufdecken. Zu groß ist das Marktgebiet, zu dünn die Personaldecke – und zu komplex die Kartelle. Zwar heißt es dieser Tage in Brüssel: „Old school cartels are back!“ Man will sich wohl wieder vermehrt den vermeintlich simplen Kartellen wie Preisabsprachen oder Kundenzuteilungen in klassischen Branchen wie der Industrie, der Textilwirtschaft oder dem Lebensmittelsektor widmen. Und es ist gut möglich, dass die Beamten solche Kartelle aus eigener Kraft aufdecken können, z.B. durch das Monitoring von Preisbewegungen.

Es stehen aber auch weitaus komplexere Sachverhalte auf der behördlichen Agenda, darunter z.B. die Verhaltenskoordinierung durch „Kartellintermediäre“ wie Handelsverbände oder Dienstleister, durch Algorithmen oder durch geschickte öffentliche Kommunikation (Signaling) sowie Kartellabsprachen mit Rückwirkungen auf Arbeitsmärkte oder Nachhaltigkeits- bzw. ESG-Ziele. Gerade in solchen Fällen werden Kronzeugen auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, was die EU-Kommission auch durch das Angebot unterstrichen hat, bestimmte Fälle vor Antragstellung anonym durch sogenannte Leniency Officers auf ihre „Kronzeugentauglichkeit“ prüfen zu lassen.

Um ihre Fälle gerichtsfest zu machen, benötigen die Behörden die bestmögliche Tatsachengrundlage. Und die beste Grundlage mit dem höchsten Beweiswert werden auch künftig die Beiträge aus dem Kreis der Kartellanten bieten.

Differenziertes Gesamtbild

Das Gesamtbild ist danach differenzierter als die Behörden es mitunter darstellen. Richtig ist: Für die Kartellverfolger markiert ein Wiederanstieg der Kronzeugenanträge einen zählbaren Erfolg, zumal sie ihre Arbeit zunehmend als gelebten Verbraucherschutz ansehen. Unternehmen sind in jedem Fall gut beraten, dieser post-pandemischen Renaissance der Kartellverfolgung durch rigorose Compliance-Maßnahmen, einschließlich möglicher Kronzeugenanträge, Rechnung zu tragen. Richtig ist aber auch: Die Kapazitäten für Kartellverfolgung ohne Kronzeugenanträge sind begrenzt – und die Zahl der Anträge liegt vielerorts noch deutlich unter den alten Höchstständen. So gingen z.B. von 2006 bis 2012 im Schnitt rund 21 Anträge pro Jahr in Brüssel ein. Im Jahr 2022 waren es 13, wobei Anträge auf bloße Bußgeldermäßigung eingerechnet sind. Die (vertrauliche) Zahl der Anträge auf Bußgelderlass, mit denen Kronzeugen ein Kartell erstmals zur Kenntnis der Behörde bringen, wird erheblich geringer sein. Ähnlich sieht es in Deutschland aus, wo es zehn Anträge im Jahr 2021 und 13 Anträge im Jahr 2022 gab; 2016 waren es noch 59.

Das aufgedeckte Kartell ist stets mehr wert als das verdeckte

Die Behörden sollten sich trotz erster Anzeichen eines „Leniency Comebacks“ den anhaltenden Reformdiskussionen über Kronzeugenprogramme stellen. Denn auch wenn die Privilegierung von Kronzeugen schon immer ein heikles Thema war: Das aufgedeckte Kartell ist stets mehr wert als das verdeckte. Für die Behörden. Für die Verbraucher. Und letztlich für die gesamte Volkswirtschaft.

*) Dr. Christoph Wünschmann ist Partner und Dr. Florian von Schreitter Counsel von Hogan Lovells.

Dr. Christoph Wünschmann ist Partner und Dr. Florian von Schreitter Counsel von Hogan Lovells.