Energiecharta

Neue Runde im Konflikt um Investitionsschutz

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Energiecharta vertieft die Gräben zur Schiedsgerichtsbarkeit. Ein Ende des Konflikts ist vorerst nicht absehbar.

Neue Runde im Konflikt um Investitionsschutz

Von Moritz Keller*)

Am 7. September 2021 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass internationale Schiedsverfahren nach dem Vertrag über die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT) gegen europäisches Recht verstoßen. Die Entscheidung in dem sogenannten Komstroy-Verfahren ist der vorläufige Höhepunkt eines bereits seit längerer Zeit andauernden Konfliktes zwischen den europäischen Gerichten und internationalen Schiedsgerichten auf der Grundlage von völkerrecht­lichen Investitionsschutzverträgen wie dem ECT.

Der ECT ist ein völkerrechtliches Abkommen, welches 1994 von insgesamt 54 Staaten und der EU abgeschlossen wurde. Er umfasst eine ganze Reihe von Regelungsbereichen – u. a. die im Fokus stehenden Vorschriften über den Investitionsschutz und die Streitbeilegung: Mit ECT garantieren Vertragsstaaten Investoren aus den anderen Vertragsstaaten eine faire und angemessene Behandlung ebenso wie Schutz vor Diskriminierung und Enteignung. Die Schutzstandards des ECT gleichen denen in den über 3000 zwischen zwei Staaten abgeschlossenen Investitionsschutzverträgen. In­vestoren haben zudem direkten Zugang zu neutralen, internationalen Schiedsgerichten, die nach völkerrechtlichen Regeln operieren – d. h. völlig unabhängig von den lokalen Gerichten. Das Abkommen ist unabhängig vom nationalen Recht völkerrechtlich für die Vertragsstaaten verbindlich.

Unternehmen aus der ganzen Welt verlassen sich auf die Schutzstandards des ECT bei ihren Investments im Ausland und suchen Unterstützung der Schiedsgerichte im Falle der Verletzung. Bis heute wurden insgesamt 142 Verfahren eingeleitet, viele sind bereits erfolgreich abgeschlossen worden. Deutsche Unternehmen haben dabei mit über 80 Verfahren einen Löwenanteil inne. Die klagenden Unternehmen reflektieren die komplette Bandbreite wirtschaftlichen Lebens – von Einzelpersonen bis zu kleinen und größeren mittelständischen Unternehmen und auch Giganten der deutschen Wirtschaft wie RWE und Uniper sind alle vertreten. Die absolut überwiegende Mehrzahl der Verfahren spielt sich dabei im Bereich der erneuerbaren Energien ab, aber auch Verfahren über die Folgen des Atomausstieges in Deutschland (Vattenfall) und des Kohleausstieges in den Niederlanden (RWE, Uniper) beschäftigen die Schiedsgerichte.

Abstimmung mit den Füßen

Viele der Verfahren spielen sich innerhalb der EU ab. In gewisser Weise eine Abstimmung mit den Füßen – die europäische Wirtschaft hat verdeutlicht, dass ihr Vertrauen in den Schutz ihrer Investitionen nach nationalem und europäischem Recht nicht ausreichend ist. Das gilt insbesondere für die Vielzahl von Fällen im Bereich der Windkraft und Fotovoltaik. In diesen Fällen werfen Investoren Staaten in der Regel vor, Zusagen zu Einspeisetarifen und teilweise sogar vertragliche Versprechen der Abnahme von Ökostrom zu festen Preisen nicht einzuhalten.

Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen den europäischen Gerichten und den Schiedsgerichten ist, dass nach Auffassung der Europäischen Kommission innerhalb der EU kein Raum für diese völkerrecht­lichen Regelungen ist und das EU-Recht­ genügend Schutz der Investoren sicherstellt. Nach Auffassung des EuGH ist ein Hauptproblem, dass die Schiedsgerichte europäisches Recht anzuwenden hätten. Gleichzeitig unterlägen die Schiedssprüche aber keiner Kontrolle durch die europäischen Gerichte – dies sei mit Blick auf die notwendige Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des europäischen Rechtes nicht hinnehmbar.

Der Streit hat eine lange Vorgeschichte: Lange waren die EU und ihre Mitgliedstaaten Vorreiter im Bereich Investitionsschutz. Der erste bilaterale Investitionsschutzvertrag wurde 1959 zwischen Deutschland und Pakistan abgeschlossen. Die EU hat den Abschluss von bilateralen Investitionsschutzverträgen mit An­wärtern auf den EU-Beitritt forciert. Erst im Jahr 2006, im Schiedsverfahren Eastern Sugar gegen die Tschechische Republik, hat die Europäische Kommission das erste Mal die Rechtsauffassung geäußert, dass die Investitionsschutzverträge zwischen EU-Mitgliedstaaten hinfällig seien.

Es folgten eine Reihe ähnlicher Interventionen der Kommission in Schiedsverfahren, bis im Jahr 2018 im Verfahren Achmea gegen die Slowakische Republik die deutschen Gerichte eine Vorlage beim EuGH in Angriff nahmen. Der EuGH entschied, dass die im Investitionsschutzvertrag zwischen der Slowakei und den Niederlanden vorgesehenen Schiedsklauseln gegen EU-Recht verstoßen. Grundlage der Entscheidung war eine ähnliche Argumentation wie jetzt im Komstroy-Verfahren.

Schiedsgerichte in Verfahren nach dem ECT haben allerdings auch nach der Achmea-Entscheidung durchgehend entschieden, dass die Entscheidung des EuGH für eine Entscheidung auf der Grundlage des ECT nicht verbindlich ist. Auch in der Sache haben bisher alle – insgesamt mehr als 40 – Schiedsgerichte die Argumentation des EuGH zurückgewiesen, die auch in der internationalen Fachliteratur vielfach kritisiert wurde. Entscheidungsbasis war für die Schiedsgerichte dabei stets das Völkerrecht.

Nach den Ausführungen der Schiedsgerichte ist für die völkerrechtliche Beurteilung die Auffassung des EuGH nicht ausschlaggebend. Schließlich handelt es sich aus Sicht des Völkerrechtes nur um ein regionales Gericht einer Vertragspartei – bei mehr als 50 Vertragsparteien insgesamt. Viele Schiedsgerichte betonten, dass der Gegenstand der Verfahren allein eine behauptete Verletzung des Völkerrechts sei und daher gerade kein EU-Recht.

Um den Investitionsschutz in der EU auch völkerrechtlich zu beenden, haben bereits eine große Zahl von europäischen Mitgliedstaaten ihre bilateralen Investitionsschutzverträge im Mai 2020 gekündigt, um diese auch völkerrechtlich zu beenden.

Ob der EuGH die ähnliche Frage unter dem ECT in derselben Weise entscheiden würde, war in der Fachwelt kontrovers diskutiert worden. Dagegen sprach u. a., dass die EU selbst Vertragspartei des ECT ist, anders als bei den bilateralen Investitionsschutzverträgen. Diese Diskussion hat der EuGH jetzt beendet und klargestellt, dass für Schiedsverfahren auf der Grundlage des ECT aus seiner Sicht in der EU kein Platz mehr ist. Nicht angesprochen ist im Urteil die Frage, ob Investoren die Schutzstandards des ECT noch vor den lokalen Gerichten geltend machen können – der ECT sieht dies vor.

Mit dem neuen Komstroy-Urteil sind die Gräben jetzt also insgesamt noch einmal tiefer geworden: Der EuGH hat verdeutlicht, dass er Schiedsverfahren nach dem ECT genauso beurteilt wie Verfahren nach bilateralen Investitionsschutzverträgen: Nach dieser Auffassung sind die Verfahren EU-rechtswidrig und die Schiedsgerichte nicht zuständig. Völkerrechtlich können die Mitgliedstaaten den ECT aber nicht einfach außerkraftsetzen – da eine Großzahl anderer Vertragsparteien beteiligt ist, würde nur die einseitige Kündigung bleiben. Nach den Vorschriften des ECT würde dies aber noch 20-jährige Fortgeltung nach sich ziehen.

Fortsetzung folgt

Die Vertragsparteien befinden sich zurzeit in Gesprächen über eine mögliche Reform, einschließlich einer Anpassung der Regelungen zur Schiedsgerichtsbarkeit und zum Investitionsschutz. Denkbar ist, dass die EU versuchen wird, die anderen Mitgliedstaaten zu überzeugen, Fälle innerhalb der EU in Zukunft vom Anwendungsbereich auszunehmen – Ausgang ungewiss.

Mit Blick auf die seit Jahren insbesondere von NGOs vorgetragene Kritik an der Schiedsgerichtsbarkeit im Bereich des Investitionsschutzes ist auch denkbar, dass eine größere Fraktion von Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich des ECT einschränken wollen wird. Dies wäre für internationale tätige Unternehmen ein Rückschlag in Sachen Rechtsschutz.

Unmittelbar werden in Kürze die ersten Schiedsgerichte zu Komstroy Stellung nehmen und den Konflikt in die nächste Runde schicken. Viele Kommentatoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die Argumentation in Komstroy nicht neu ist und bisher auch kein Schiedsgericht überzeugt hat; Fortsetzung folgt.

*) Dr. Moritz Keller ist Partner im Bereich Litigation and Dispute Resolution im Frankfurter Büro von Clifford Chance.