Reformbedarf bei der Wegzugsbesteuerung
Bundesfinanzhof bezieht Stellung
zur deutschen Wegzugssteuer
Das lange erwartete Urteil in der Rechtssache „Wächtler“ zeigt Reformbedarf auf
Von Maximilian Haag und Dominik v. Armansperg *)
Die deutsche Wegzugssteuer ist für viele Unternehmer belastend. Betroffen sind insbesondere Jungunternehmer, die in der global vernetzten Welt nicht dauerhaft im gleichen Land arbeiten und leben möchten. Der Anwendungsbereich der Wegzugssteuer wurde seit der Einführung im Jahr 1972 durch eine Reihe von Gesetzesänderungen immer stärker ausgeweitet.
Wie eine fiktive Veräußerung
Nach Paragraf 6 des deutschen Außensteuergesetzes wird der Wertzuwachs in Anteilen an Kapitalgesellschaften bei Einschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland an diesen Anteilen – im Regelfall bei Wegzug des Gesellschafters ins Ausland – einer deutschen „Schlussbesteuerung“ unterworfen. Neben dem steuerauslösenden Ereignis muss der Gesellschafter mindestens sieben der letzten zwölf Jahre im Inland unbeschränkt steuerpflichtig und zu mindestens 1% an der in- oder ausländischen Kapitalgesellschaft beteiligt gewesen sein. Rechtsfolge ist die Besteuerung des Wertzuwachses wie eine fiktive Veräußerung der betreffenden Anteile zum Verkehrswert.
Substantiell gestärkt
Der Bundesfinanzhof (v. 6.9.2023 – I R 35/20) hat mit seinem kürzlich veröffentlichten Urteil in der Sache „Wächtler“ Stellung zur Wegzugssteuer bei Wegzug in die Schweiz genommen. Zwar hat der BFH die Klage von Herrn Wächtler gegen die Festsetzung der Wegzugsteuer im Ergebnis aus verfahrensrechtlichen Gründen abgewiesen. Trotzdem wurden die Rechte von Wegzüglern in die Schweiz unter Anlehnung an die vorangegangene EuGH-Entscheidung vom 26.2.2019 substantiell gestärkt.
Unter Anwendung des Freizügigkeitsabkommens vom 21.6.1999 zwischen der EU und der Schweiz soll eine bis zum tatsächlichen Anteilsverkauf andauernde Stundung der deutschen Wegzugssteuer bei Wegzügen in die Schweiz geboten sein. Die Stundung muss für die gesamte Steuer ausgesprochen werden und zinslos erfolgen, da der Wegzügler andernfalls einen Liquiditätsnachteil gegenüber einem rein innerdeutschen Umzügler hätte. Die Stundung soll allerdings von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden können, was auch künftig, je nach Fall, ein potentiell gewichtiges Hindernis für den Wegzug darstellen kann.
Das Urteil des Bundesfinanzhofs betrifft zunächst den Fall von Herrn Wächtler. Gleichwohl hat die Entscheidung nach unserer Einschätzung grundlegende Bedeutung für viele weitere Wegzugsfälle. Einerseits ist die Wegzugssteuer für alle Steuerpflichtigen, die bis zum 31.12.2021 in die Schweiz verzogen sind und in den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz fallen, nun auf Grundlage des Urteils bis zu einem tatsächlichen Anteilsverkauf dauerhaft zinslos zu stunden. Eine Stundung kann sogar noch dann beantragt werden, wenn die Wegzugssteuer bereits bezahlt wurde, was zu einer Erstattung der Steuer führt.
Signalwirkung
Darüber hinaus hat die Entscheidung eine wichtige Signalwirkung für die neue Gesetzeslage, die für alle Wegzüge ab 1.1.2022 die dauerhafte Stundung abgeschafft hat. Zwar macht das neue Recht keinen Unterschied mehr zwischen Wegzügen in einen anderen EU-/EWR-Staat oder in die Schweiz, es weitet aber die vom EuGH beanstandete Benachteiligung von Wegzügen in das Ausland gegenüber rein innerdeutschen Umzügen sogar auf EU-/EWR-Wegzugsfälle aus.
Daher ist zu erwarten, dass der Bundesfinanzhof auch unter der neuen Gesetzeslage eine dauerhafte zinslose Stundung der Wegzugssteuer bis zum Anteilsverkauf für sämtliche Wegzüge in andere EU-/EWR-Staaten oder in die Schweiz verlangen wird.
Stundung vorgesehen
Schließlich hat der Gesetzgeber sowohl für Wegzüge ab dem 1.1.2022 als auch – nachträglich im Rahmen der Einführung der sogenannten globalen Mindeststeuer Ende 2023 – für Wegzüge bis zum 31.12.2021 einen Widerruf der Stundung der Wegzugssteuer vorgesehen, soweit aus der Kapitalgesellschaft, deren Anteile mit der Wegzugssteuer belegt sind, die Ausschüttung von Gewinnen oder Einlagen erfolgt, deren Betrag einen Wert von 25% des Verkehrswerts dieser Anteile im Zeitpunkt des Wegzugs übersteigt.
Finanzverwaltung ist am Zug
Diese faktische Ausschüttungssperre steht angesichts des Urteils des BFH nun zur Disposition: Denn eine solche ratierliche Zahlung der Wegzugssteuer bedeutet für den ins Ausland weggezogenen Steuerpflichtigen im Vergleich zum rein inländischen Umzug ebenfalls einen diskriminierenden Liquiditätsnachteil.
Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung ihre bisherige, deutlich strengere Linie aufgibt oder im Gegenteil möglicherweise die Nichtanwendung des Wächtler-Urteils verfügt. Die Hoffnung, dass der Gesetzgeber das BFH-Urteil zum Anlass nimmt, die deutlich über das regulatorische Ziel hinausschießenden Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre zurückzudrehen, bleibt aller Voraussicht nach unerfüllt. Weitere gerichtliche Auseinandersetzungen mit den Finanzämtern wegen der deutschen Wegzugssteuer werden daher folgen.
*) Dr. Maximilian Haag ist Partner und Dr. Dominik v. Armansperg Senior Associate von Poellath.