GastbeitragKartellrecht

Späte Erleuchtung in der EU-Fusionskontrolle

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Illumina/Grail hat die Ambitionen der EU-Kommission in der Fusionskontrolle signifikant begrenzt.

Späte Erleuchtung in der EU-Fusionskontrolle

Späte Erleuchtung
in der europäischen Fusionskontrolle

Das “Illumina/Grail“-Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat weitreichende Folgen

Von Julian Urban und Florian von Schreitter *)

Das am 3. September ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Sachen Illumina/Grail hat hohe Wellen geschlagen. Denn der EuGH hat die fusionskontrollrechtlichen Ambitionen der EU-Kommission massiv eingeschränkt.

Die EU-Kommission war dazu übergegangen, Transaktionen zu prüfen, für die weder sie noch ein EU-Mitgliedstaat zuständig waren. Frei nach dem Motto „Minus und Minus ergibt Plus“ stützte sie sich dabei auf eine eigenwillige Auslegung von Art. 22 der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO). Sie tat dies aus Furcht vor sogenannten „Killer Acquisitions“, bei denen große Unternehmen potenzielle Konkurrenten aufkaufen, bevor diese zu einer Bedrohung werden. Solche Unternehmen haben oft zu geringe Umsätze, um auf dem Radar der Fusionskontrolle zu erscheinen.

Unzulässige Verweisung

Das Zusammenschlussvorhaben Illumina/Grail war das erste „Opfer“ dieser neuen Linie. Die (eigentlich unzuständige) Kommission prüfte und untersagte die 7 Mrd. Dollar schwere Übernahme des Krebsfrüherkennungsunternehmens Grail durch das amerikanische Krebsforschungsunternehmen Illumina. Die Entscheidung basierte auf Verweisungsanträgen von sechs ebenfalls unzuständigen Ländern, angeführt von Frankreich. Das Gericht der Europäischen Union (EuG) bestätigte dieses Vorgehen noch. Der EuGH aber kippte nun die Entscheidung des EuG und erklärte die Annahme der Verweisungsanträge durch die Kommission für nichtig.

Artikel 22 FKVO sei eingeführt worden, weil einige Mitgliedstaaten damals über gar keine nationalen Fusionskontrollregeln verfügten. Ein allgemeines Korrektiv einer vermeintlichen Durchsetzungslücke sei er dagegen nicht – auch angesichts der grundlegenden Bedeutung der in der FKVO festgelegten Umsatzschwellen für eine Anmeldepflicht. Diese seien ein aus Unternehmenssicht elementarer Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit.

Das Urteil hat über den Einzelfall hinaus weitreichende Konsequenzen. Kurzfristig stärkt es die Rechtsstaatlichkeit und -sicherheit, was sich positiv auf die Planung von M&A-Prozessen auswirken dürfte – insbesondere bei der Übernahme von Nischenplayern und Start-ups. Die scheidende EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat jedoch schon klargemacht, dass die Kommission nach wie vor eine Durchsetzungslücke sieht, die sie nicht hinnehmen wird. Die spannende Frage ist daher: Wie ist diese Lücke zu schließen?

Schwellenwerte anpassen?

Eine Möglichkeit bestünde darin, die FKVO-Schwellenwerte anzupassen oder neue Schwellen einzuführen (beispielsweise orientiert am Transaktionswert). Diese Lösung aber ist von (weitgehendem) Konsens unter den Mitgliedstaaten abhängig, der derzeit nicht in Sicht ist. Das gilt insbesondere für eine größer angelegte Reform der nun schon 20 Jahre alten FKVO. Mit einer bloßen Absenkung der umsatzbezogenen Schwellen wäre es aber nicht getan, denn dies würde zu einem zu starken Anstieg des Brüsseler Fallaufkommens führen. Die Kommission will zwar „dicke Fische fangen“ – aber bitte ohne Schleppnetz.

Mehr Nationalstaatlichkeit wagen?

Wo zentrale Lösungen schwierig sind, könnte ein Zuständigkeitsausbau der Mitgliedstaaten helfen. Denn jeder tatsächlich zuständige Mitgliedstaat kann – das war immer unstreitig – einen Verweisungsantrag nach Art. 22 FKVO stellen. Und es gibt durchaus einen Trend zu großzügigerer Zuständigkeitsbegründung. Deutschland und Österreich haben neben den umsatz- auch transaktionswertbezogene Anmeldeschwellen. Und einige Mitgliedstaaten haben ihren Wettbewerbsbehörden eine sogenannte „call in“-Ermächtigung eingeräumt, sodass sie Zusammenschlüsse auch unterhalb der ansonsten geltenden Anmeldeschwellen aufgreifen können.

Ganz zufrieden dürfte die Kommission aber auch damit nicht sein. Denn historisch besonders verweisungsaffine Staaten wie Frankreich, Spanien oder die Niederlande verfügen über keine „call in“-Kompetenz. Belgien, Deutschland und Österreich haben bereits signalisiert, keine Notwendigkeit für eine Erweiterung ihrer Fusionskontrollvorschriften zu sehen. Und solange nicht jeder Mitgliedstaat eine „call in“-Möglichkeit hat, bleiben die Brüsseler Eingriffsbefugnisse begrenzt.

Missbrauchskontrolle als Rettungsanker?

Es bliebe der Rückgriff auf bestehendes Recht, konkret: die Missbrauchskontrolle. Nicht fusionskontrollpflichtige Transaktionen können danach als möglicher Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung geprüft werden; dies hat der EuGH unlängst bestätigt. Daraus folgte in der Praxis aber keine generelle Anmeldepflicht, sondern nur eine punktuelle nachträgliche Kontrolle im Einzelfall – und nur bei Erwerbern, die bereits marktbeherrschend sind. Da Missbrauchsverfahren zudem oft viele Jahre dauern, dürfte es sich um die aus Kommissionssicht unbeliebteste Lösung handeln.

Der Anfang nach dem Ende

Das jetzige Urteil ist damit einerseits das Ende einer mehrjährigen Debatte, ganz sicher aber auch der Beginn einer neuen. Die Entscheidung für die Förderung einer (oder mehrerer) der genannten Maßnahmen wird ganz oben auf der Agenda der künftigen Leitung der Brüsseler Wettbewerbsbehörde stehen. Denn das Kernanliegen der Kommission bleibt unverändert: „Killer Acquisitions“ sind zu verhindern. Es wird also sicherlich wieder Bewegung in die Sache kommen – und die kartellrechtliche Komplexität vieler M&A-Transaktionen wieder erhöhen.

*) Dr. Julian Urban ist Senior Associate, Dr. Florian von Schreitter ist Counsel in der Kanzlei Hogan Lovells in Düsseldorf.

Dr. Julian Urban ist Senior Associate, Dr. Florian von Schreitter ist Counsel in der Kanzlei Hogan Lovells in Düsseldorf.