Unternehmen in der Zwickmühle der Russlandsanktionen
In der Zwickmühle der Russland-Sanktionen
Asymmetrie und europäische Partikularinteressen – Unternehmen sind einer ungekannten regulatorischen Unsicherheit ausgesetzt – Komplexe Compliance
Von Bärbel Sachs und David Rösch *)
Zum 24. Februar 2024 jährt sich die russische Vollinvasion der Ukraine zum zweiten Mal. Für diesen Tag wird auch das dreizehnte Sanktionspaket der EU erwartet. Vor diesem Hintergrund ist eine kritische Bilanz geboten: Die Sanktionen lassen ein langfristiges Konzept ebenso vermissen wie eine flexible Ausgestaltung. Entsprechend hoch sind die Kollateralschäden für EU-Unternehmen. Die EU täte gut daran, Lektionen aus den letzten Jahren zu ziehen und einen Konsens herzustellen, der mitgliedsstaatliche Partikularinteressen überbrückt und bestehende Widersprüche und Zielkonflikte ausmerzt.
Zwölf Pakete
In bislang zwölf Sanktionspaketen wurden einerseits über 1.900 russische Individuen und Unternehmen mit Finanzsanktionen belegt, ihre Vermögenswerte in der EU eingefroren und Transaktionen mit ihnen untersagt. Andererseits wurden schrittweise Sektoren des EU-Russland-Handels sanktioniert, indem etwa Ausfuhr-, Einfuhr- und Dienstleistungsverbote verhängt wurden. Zusammengenommen scheinen sich diese Maßnahmen zu einem Totalembargo gegen Russland verdichtet zu haben.
Die EU-Sanktionen sollen asymmetrisch wirken, d. h. der russischen Wirtschaft mehr schaden als der der EU. Es ist zweifelhaft, ob dies immer gelungen ist. Einerseits sind Sektoren verschont geblieben, die einen beträchtlichen Hebel gegenüber Russland bieten – etwa die Nuklearindustrie, der Immobiliensektor und lange Zeit der Diamantenhandel. Dahinter stehen auch Partikularinteressen der Mitgliedsstaaten. Wegen des faktischen Vetorechts jedes Mitgliedsstaats konnten wichtige russische Einnahmequellen nicht sanktioniert werden, worunter die Effektivität der Sanktionen erheblich gelitten hat. Ungarn etwa konnte eine Ausnahme für ein Kernkraftwerk erwirken, dass von Rosatom gebaut werden soll. Gleichermaßen blieb der Handel mit russischen Diamanten auf Betreiben Belgiens lange unbehelligt, obwohl er einen unproportional großen Hebel gegenüber Russland bietet. Fragwürdig erscheint auch, dass russische Staatsangehörige nur Einlagen von bis zu 100.000 Euro bei einem EU-Kreditinstitut haben dürfen, gleichzeitig aber weitestgehend frei große Vermögen in hiesige Immobilien investieren können.
Erheblicher Verwaltungsaufwand
Andererseits belasten hohe bürokratischen Anforderungen und mittelbare Auswirkungen der Sanktionen europäische Unternehmen erheblich. Es ist zweifelhaft, ob die EU sich der gravierenden Auswirkungen auf Unternehmen jeder Größe gänzlich bewusst war und ist. Zu nennen sind etwa die Nachweispflichten im Eisen- und Stahlbereich oder die Pflicht zur Aufnahme einer „No-Russia-Clause“ aus dem zwölften Sanktionspaket. Demnach müssen EU-Unternehmen bei bestimmten Ausfuhrgeschäften mit Drittländern dem Warenempfänger vertraglich untersagen, die gelieferten Güter nach Russland oder zur dortigen Verwendung weiterzugeben.
Daraus resultiert erheblicher Verwaltungsaufwand auf Unternehmensseite, wo regelmäßig hunderte bestehender Vertragsbeziehungen um eine solche Klausel ergänzt werden müssen. Ob dadurch Umgehungslieferungen nach Russland wirklich verhindert werden können, bleibt zumindest fraglich – zumal viele gebräuchliche außenwirtschaftsrechtliche Klauseln die Vertragspartner ohnehin zur Einhaltung von EU-Sanktionen verpflichten. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Bemühungen zur Sanktionsdurchsetzung den Kanon unternehmerischer Sorgfaltspflichten erheblich ausdehnen und den administrativen Aufwand größtenteils den Unternehmen überbürden.
Fehlende Flexibilität
Diese Herausforderungen verschärfen sich dadurch, dass Kompromisse über neue Sanktionspakete oft erst in letzter Minute erreicht werden. Dies führt insbesondere dazu, dass Genehmigungsfristen, etwa für den Rückzug aus Russland, im zwölften Sanktionspaket erst zwei Wochen vor Auslaufen verlängert wurden. Man mag vertreten, dass dadurch der Druck auf EU-Unternehmen, sich zurückzuziehen, erhöht wird, dürfte dafür aber angesichts der Komplexität von Russland-Exits allenfalls Kopfschütteln in den Rechtsabteilungen ernten.
Die Sanktionen bilden die komplexe wirtschaftliche Realität nur unzureichend ab, erweisen sie sich doch oftmals als zu starr und pauschal. Begrüßenswert wären zusätzliche Genehmigungsmöglichkeiten sowie raschere Hilfestellungen für Unternehmen – von denen sofortige Einhaltung neuer Maßnahmen gefordert wird.
Leitlinien für Unternehmen
Zur Klärung von Einzelfragen veröffentlichen EU-Kommission und Bundesregierung regelmäßig FAQs. Diese liefern zwar unverzichtbare Orientierungshilfen, erscheinen aber regelmäßig erst deutlich nachdem einschneidende Sanktionsmaßnahmen wie die „No-Russia-Clause“ wirksam geworden sind und Unternehmen diesbezügliche Dispositionen treffen müssen. Die komplexe Wirklichkeit ließe sich besser abbilden, wenn die EU-Sanktionen mehr Raum für Einzelfallgenehmigungen böten. So könnten im Einzelfall Abweichungen von grundsätzlichen Verboten ermöglicht werden.
Misstrauen zwischen den Staaten
Ein gewichtiges Argument gegen zusätzliche Genehmigungsmöglichkeiten fußt auf Misstrauen zwischen den Mitgliedsstaaten: Die Umsetzung der Sanktionen liegt bei den Mitgliedsstaaten; ihre Behörden sind für Genehmigungen zuständig. Daher rührt die Sorge, dass manche Staaten laxe Maßstäbe zugunsten der heimischen Wirtschaft anlegen könnten. Andererseits haben einige Behörden in der Vergangenheit Flexibilität vermissen lassen und überzogene Maßstäbe angelegt. So wurden teilweise im Geiste der Sanktionen sinnvolle Tätigkeiten nicht oder zu spät genehmigt. Beispielhaft ist hier an den Abzug von Kapital und Investitionen aus Russland zu denken, wenn die Frist für genehmigungsfreie Einfuhren in die EU aufgrund der komplizierten Lage in Russland um wenige Tage verpasst wurde.
Angesichts der bereits erheblichen Ausweitung der EU-Sanktionen treten zusehends deren Durchsetzung sowie die Vermeidung ihrer Umgehung in den Vordergrund. So wurden zuletzt mehrere Ermittlungen des Generalbundesanwalts bekannt, die Embargoverstöße betrafen. In Deutschland wurden schon ab Mai 2022 mit zwei Sanktionsdurchsetzungsgesetzen Ermittlungskompetenzen erweitert. Aber auch auf EU-Ebene hat man sich geeinigt, zukünftig Sanktionsverstöße in allen Mitgliedsstaaten als Straftaten zu ahnden.
Druck auf Drittländer
Daneben werden die Sanktionsverordnungen verstärkt genutzt, um Druck auf Drittstaaten auszuüben, die außerhalb des Anwendungsbereichs der EU-Sanktionen liegen. Dies geschah etwa durch Listung von Staatsangehörigen des Irans und der Vereinigten Arabischen Emirate. Zudem schuf die EU mit dem „anti-circumvention tool“ einen Mechanismus, um bestimmte Ausfuhren in Drittstaaten zu untersagen, sofern eine Umleitungsgefahr nach Russland festgestellt wurde. Wenngleich dieser Mechanismus bislang nicht zum Tragen gekommen ist, deutet sich eine Trendwende in der EU an – hin zu sogenannten extraterritorialen Sanktionen.
Solche Sanktionen beanspruchen auch jenseits des traditionellen räumlichen Anwendungsbereichs der EU-Sanktionen Geltung, etwa für Drittstaaten und deren Angehörige. Bekannt sind extraterritorial wirkende Sanktionen bislang vor allem seitens der USA; sie stießen regelmäßig auf lautstarke Kritik der EU. Dass man nun ähnliche Töne anschlägt, unterstreicht die Schwierigkeit, Sanktionsumgehungen zu begegnen, und die Wirksamkeit von Sekundärsanktionen.
Übererfüllung der Vorschriften
Die sprunghafte Entwicklung der EU-Sanktionen und ihre Unstimmigkeiten werden Unternehmen weiterhin erheblich fordern. EU-Unternehmen sind einer ungekannten regulatorischen Unsicherheit ausgesetzt. Diese speist sich aus Rechtsunsicherheit, mangelnden Interpretationshilfen und fehlenden Genehmigungsmöglichkeiten bei gleichzeitig steigendem Ermittlungsdruck und ausgedehntem Geltungsanspruch der EU-Sanktionen. Diese Gemengelage führt häufig zur Übererfüllung der Sanktionsvorschriften durch Unternehmen: Mögliche Spielräume werden nicht genutzt, da vermeintliche Sanktionsverstöße und Reputationsschäden befürchtet werden. So haben die EU-Sanktionen mittlerweile eine ungekannte Strahlkraft entwickelt und wirken auf gänzlich unkritische Bereiche ein. Wohin dieses Eigenleben führt, bleibt abzuwarten. Sicher erscheint einzig, dass der Wan-del des Sanktionsrechts ein stetiger Begleiter sein und die rechtliche Beratung hierzu wichtig bleiben wird.
*) Dr. Bärbel Sachs ist Partnerin von Noerr und Dr. David Rösch Associate der Kanzlei.
*) Dr. Bärbel Sachs ist Partnerin von Noerr und Dr. David Rösch Associate der Kanzlei.