Aktionärsrechte

Virtuelle Aktionärstreffen sind zukunftsfähig

Der Wechsel zu virtuellen Aktionärstreffen ist der Pandemie geschuldet, doch eine Rückkehr zu reinen Präsenzveranstaltungen ist nicht zu erwarten. Investoren und Unternehmen müssen Kompromisse finden.

Virtuelle Aktionärstreffen sind zukunftsfähig

Von Robert Weber*)

Börsennotierte Aktiengesellschaften halten wegen der anhaltenden Covid-19-Pandemie ihre Hauptversammlung (HV) derzeit auf der Grundlage einer aktienrechtlichen Sondergesetzgebung nur noch virtuell ab. Aktionäre haben dabei in der Regel nicht mehr die Möglichkeit, Fragen live in der Hauptversammlung zu stellen, sondern müssen diese typischerweise bis spätestens einen Tag vor der Versammlung schriftlich über ein internetgestütztes HV-Portal bei der Gesellschaft einreichen. Ebenso können Gegenanträge bloß vor der Versammlung gestellt werden, Verfahrensanträge gar nicht mehr.

Hintergrund dieser Verfahrensweise ist nicht zuletzt die Befürchtung, dass die Gesellschaft bei virtuellen Hauptversammlungen von einer Vielzahl von in der Hauptversammlung gestellten Fragen und Anträgen überflutet wird und diese dann nicht mehr rechtssicher ohne Anfechtungsrisiken abwickeln kann. Verglichen mit den vor der Covid-19-Pandemie üblichen Präsenzversammlungen ist die Aktionärsbeteiligung bei virtuellen Hauptversammlungen damit eingeschränkt. Das wirft die Frage auf, ob und inwiefern Gesellschaften den Forderungen der Aktionärsschutzvereinigungen nach mehr Aktionärsbeteiligung nachkommen können und sollen.

Eine Pflicht, über die gesetzlich vorgesehenen Minimalbedingungen hinaus Aktionärsrechte in einer virtuellen Hauptversammlung zu gewähren, besteht allerdings nicht. Dementsprechend entscheiden sich auch große Dax-Unternehmen zum Teil dafür, die Beteiligung der Aktionäre auf das gesetzlich geforderte Mindestmaß zu beschränken. Die Erfahrung zeigt, dass dies nicht nur Nachteile bringt: Wird wie üblich eine Frist für die Einreichung von Aktionärsfragen gesetzt, können Antworten sorgfältig im Vorfeld vorbereitet werden. Die Antwortqualität ist dann regelmäßig höher als bei live in der Hauptversammlung gestellten Fragen, die unter Zeitdruck beantwortet werden müssen.

Über das Mindestmaß hinaus

In der Praxis ist die Tendenz zu beobachten, dass Unternehmen nicht bei dem gesetzlichen Mindestmaß für virtuelle Hauptversammlungen stehen bleiben. Manche Gesellschaften veröffentlichen die Reden der Verwaltung vorab über ihre Internetseite. Das ist sinnvoll, weil es den Aktionären je nach Veröffentlichungszeitpunkt ermöglicht, in ihren Fragen auf die in den Reden angesprochenen Themen einzugehen. Stärker noch wird die Aktionärsbeteiligung befördert, wenn Unternehmen ihren Aktionären die Möglichkeit einräumen, selbst vorab Videobeiträge einzureichen. Diese werden dann vor der Versammlung veröffentlicht und lassen sich in der Hauptversammlung auch einspielen. Dabei wird schon aus technischen Gründen eine Begrenzung des Beitragsumfangs vorgegeben (zum Beispiel zwei bis drei Minuten). Fragen dürfen allerdings in den Videobeiträgen nicht gestellt werden, sondern wiederum nur schriftlich über das HV-Portal.

Verschiedene Unternehmen erlauben ihren Aktionären auch, während der Versammlung schriftlich über das HV-Portal Nachfragen zu vorab eingereichten Fragen zu stellen und damit während der Hauptversammlung auf die Ausführungen des Vorstands zu reagieren. Freilich wird auch die Nachfragemöglichkeit in der Praxis unter verschiedene Vorbehalte gestellt: Der Vorstand entscheidet regelmäßig nach seinem Ermessen, ob und wie er die Nachfragen beantwortet. Ebenso wird vorbehalten, die Nachfragemöglichkeit zu beschränken, ähnlich wie von Präsenzversammlungen bekannt. Teils wird auch von vornherein lediglich eine einzige Nachfrage pro gestellte Frage erlaubt. Damit ist auch die Nachfragemöglichkeit derzeit nichts weiter als ein vorsichtiges Entgegenkommen an die Aktionäre. Sie ist aber weit entfernt von dem Auskunftsrecht, das den Aktionären in einer physischen Hauptversammlung bislang zustand – und ein großer Teil der Unternehmen gewährt noch nicht einmal diese Möglichkeit, sondern bleibt beim gesetzlichen Mindestmaß.

Ebendieses Mindestmaß ist den Aktionärsschützern ein Dorn im Auge. So versuchte die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz jüngst auf der Hauptversammlung der Deutschen Telekom eine Satzungsänderung durchzusetzen, wonach den Aktionären in virtuellen Hauptversammlungen zukünftig ein Auskunftsrecht sowie ein Rederecht einzuräumen gewesen wäre. Wie sinnvoll eine solche Regelung derzeit ist, darf allerdings hinterfragt werden. Schließlich ist die Durchführung rein virtueller Hauptversammlungen bislang noch lediglich aufgrund einer zeitlich begrenzten aktienrechtlichen Sondergesetzgebung möglich.

Dennoch darf man davon ausgehen, dass die virtuelle Hauptversammlung zukunftsfähig ist. Dafür sprechen schon die Rekordpräsenzen auf diesen Versammlungen. Wie das Format in Zukunft ausgestaltet werden kann, wird derzeit diskutiert. Dabei zeigt sich einerseits, dass die aktuellen Einschränkungen außerhalb von Krisenzeiten kaum kompromissfähig sein werden. Andererseits ist es bei börsennotierten Gesellschaften schwierig, ein echtes „Live“-Rede-, Frage- und Antragsrecht wie in der Präsenzversammlung einzuräumen: Eine solche Live-Beteiligung der Aktionäre, bei der diese ihre Rechte zum Beispiel per Videozuschaltung ausüben, nachdem sie sich zuvor an einem „virtuellen Wortmeldetisch“ angemeldet haben, stellt die Gesellschaften vor technische Herausforderungen und rechtliche Unsicherheiten.

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass Aktionäre den elektronischen Wortmeldetisch mit Wortmeldungen über das HV-Portal innerhalb von wenigen Minuten überfluten, bevor der Versammlungsleiter überhaupt sinnvoll reagieren kann. Räumt man indes den Aktionären die Möglichkeit ein, ihre Fragen schriftlich während der Hauptversammlung über das HV-Portal zu stellen, besteht ebenso die Gefahr einer Überflutung der Gesellschaft mit solchen Fragen. Diese Sorge erscheint umso berechtigter, als im Rahmen virtueller Hauptversammlungen teils weitaus mehr Fragen eingereicht werden als auf Präsenzveranstaltungen.

Vor diesem Hintergrund wird man bei einer virtuellen Hauptversammlung nicht umhinkommen, Elemente der Aktionärsbeteiligung in das Vorfeld zu verlagern. Reichen Aktionäre vor der Hauptversammlung Fragen ein, kann das nicht nur die Qualität der Antworten erhöhen, sie können auch sinnvoll kategorisiert werden. Man mag sogar darüber nachdenken können, den Vorstand mit einem ge­wissen Vorlauf zu einer (Teil-)Beantwortung eingereichter Fragen über die Website vor der Hauptversammlung zu verpflichten. Der Vorstand kann die Antworten in Ruhe vorbereiten und rechtlich prüfen lassen.

Die Aktionäre können sich bereits im Vorfeld der Hauptversammlung ein Bild machen, langwierige Antwortrunden in der Versammlung werden vermieden. Den Aktionären kann dann immer noch die Möglichkeit eingeräumt werden, auf die gegebenen Antworten zu reagieren und weitere Fragen in der Hauptversammlung zu stellen – wobei breite Zustimmung aber wohl nur eine Lösung finden dürfte, nach der nicht nur Nachfragen, sondern auch neue Fragen gestellt werden können, die sich aufgrund der Ausführungen des Vorstands ergeben. Denn man stelle sich einmal vor, ein Vorstand müsste auf die Frage eines Aktionärs in der Hauptversammlung einen Compliance-Verstoß einräumen und Aktionäre könnten dazu in der Hauptversammlung keine weiteren Fragen stellen.

Anfechtungsrisiken

Entscheidend für die Zukunft der virtuellen Hauptversammlung nach der Covid-19-Pandemie wird es also sein, einen Kompromiss zwischen dem bislang durch das Anfechtungsrecht abgesicherten Auskunftsrecht der Aktionäre einerseits und dem Interesse der Gesellschaften an rechtssicheren und unanfechtbaren Hauptversammlungsbeschlüssen andererseits zu erzielen.

Auch wenn eine Auskunftsverweigerung bereits heute unter Umständen möglich ist, wird man dennoch überlegen müssen, hier die Grenzen der Antwortpflicht des Vorstands nachzujustieren, um Anfechtungsrisiken zu vermeiden. Das gilt vor allem dann, wenn nicht alle Fragen in angemessener Zeit beantwortet werden können. Ferner wird man die Diskussion über eine Neuregelung des aktienrechtlichen Anfechtungsrechts erneut führen müssen.

*) Dr. Robert Weber ist Partner und Co-Leiter der deutschen Corporate-Praxis von Dentons.