Zehn Jahre EZB-Aufsicht: Zeit für eine Schubumkehr
Zeit für eine Schubumkehr der EZB-Aufsicht
Bestandsaufnahme zum zehnjährigen Jubiläum − Finanzinstitute klagen über Risikoaversion − Vermeidbare Anforderungen und unnötige Bürokratie
Von Alexander Behrens
und Joachim Wuermeling *)
Kaum kritische Stimmen sind bei den Konferenzen aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus der Europäischen Zentralbank zu hören. Der Single Supervisory Mechanism („SSM“), der am 4. November 2014 seine Arbeit aufnahm, habe eine „effektive Aufsicht (…) durch ein gemeinsames und konsistentes aufsichtliches Rahmenwerk auf der Grundlage von nationalen Erfahrungen“ geschaffen, sagt die SSM-Vorsitzende Claudia Buch. Demgegenüber ergeben sich aus der anwaltlichen Beratungspraxis Befunde, die eher einen Kurswechsel nahelegen. Eine Bestandsaufnahme.
Zentralisierung und Vereinheitlichung
Die Aufbauphase des SSM unter der ersten Vorsitzenden, Danièle Nouy, war natürlicherweise von Zentralisierung und Vereinheitlichung der unterschiedlichen Aufsichtspraktiken der nationalen Behörden geprägt. Aufsichtliche Instrumente aus den damals 17 Euro-Ländern wurden harmonisiert, aber auch kumuliert. Ihr Nachfolger Andrea Enria läutete zwar eine Konsolidierung ein, die aber mit einem weiteren Personalaufbau und zunehmendem Aufsichtsdruck einherging. Mittlerweile beschäftigt der SSM 1.500 Mitarbeiter und greift auf ein Vielfaches an Personal in den nationalen Aufsichtsbehörden zurück. So werden etwa 90% der Vor-Ort-Prüfungen von Prüfern aus den Euro-Staaten durchgeführt.
Aufsichtsdruck nimmt zu
Querschnittspolitiken über alle Banken hinweg gewannen an Bedeutung (Beispiel: Desk review bei Auslandsbanken), immer präskriptiver, datengetriebener und mechanischer wurden die Vorgaben (Beispiel: SREP). Die Aufsichtsinstrumente wurden weiter ausgedehnt (Beispiel: Ausschüttungssperren). Ganze Geschäftsfelder wurden beschränkt (Beispiel: Leveraged Loans).
Die beaufsichtigen Institute klagten auf dem von A&O Shearman kürzlich veranstalteten Senior SSM Forum mit Vertretern direkt beaufsichtigter Banken aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des SSM über zunehmende Anforderungen und einen exponentiellen Anstieg der Auskunftsersuchen mit immer kürzeren Antwortfristen. Die Risikoaversion des SSM führe zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Banken und zu einem weiteren Herausdrängen von klassischem Bankgeschäft in den nicht-regulierten Bereich, lautete die Klage.
Hundert Gerichtsverfahren
Die Besonderheiten von Geschäftsmodellen und Risikoprofilen würden kaum berücksichtigt (Beispiel: globale und Spezialbanken). Die Risikoaversion steige, während die Flexibilität abnehme. Initiativen der Aufseher seien immer weniger vorhersehbar. Der SSM setze zunehmend auf Sanktionen wie Strafzahlungen und Zwangsgelder statt auf konstruktive Kooperation.
Davon zeugen auch die etwa hundert Gerichtsverfahren, die gegen Entscheidungen des SSM bisher angestrengt wurden und zum Teil auch Erfolg hatten. Die Anrufung von Gerichten dürfte in Zukunft weiter zunehmen, wenn der SSM die rechtlichen Grenzen seiner Befugnisse mehr und mehr austestet (Beispiel: periodische Zahlungen wegen Verzug bei ESG-Risikomanagement).
Auch aufsichtsfremde Ziele
Die Verfolgung von aufsichtsfremden, nicht-finanziellen Zielen wie Klimaschutz und Gleichberechtigung durch den SSM stößt bei den beaufsichtigten Instituten auf Unverständnis. Besonders belastend wird die Erwartung an Vorstände empfunden, sich mit wenig relevanten Detailfragen zu befassen.
Bankenregulierung immer strikter
Es ist nicht immer einfach auszumachen, ob die europäischen oder nationalen Gesetzgeber, die Standardsetzer oder die Aufseher für Verschärfungen verantwortlich sind. Vor allem die europäische Gesetzgebung hat mit den Aufsichtspaketen der letzten Jahre die Regeln verschärft, die die Bankenaufsicht umsetzen muss. Im Ergebnis hat aber jeder seinen Anteil an dem Gesamtergebnis.
Für die Gesetzgebung zeichnet sich allerdings nun eine Trendwende ab: Jüngst forderten die Finanzministerien aus Deutschland, Frankreich und Italien die neue europäische Kommission auf, „den Gang zu wechseln“, um das Regelwerk „balancierter, risiko-sensitiv, und effektiv“ zu gestalten. Von „neuen, weitreichenden Initiativen“ solle „mittelfristig abgesehen werden“. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwartet von der neuen Finanzkommissarin, die bestehenden Regeln „zu stressen“ und den regulatorischen Rahmen zu überprüfen, um das „Wachstum der Unternehmen finanzieren zu können“.
Aufbauarbeit abgeschlossen
Nachdem der SSM in den vergangenen 10 Jahren seine Aufsichtspraxis Schritt für Schritt etabliert hat, ist auch in der Umsetzung der Aufsichtsgesetze ein sehr hohes Niveau erreicht worden. Es ist deshalb aus unserer Sicht nicht erforderlich, die „Aufbauarbeit“ im SSM weiter fortzusetzen, die Methodik weiter auszudifferenzieren und den Aufsichtsdruck zu erhöhen. Der SSM kann mit dem erreichten Stand zufrieden sein und braucht nicht nach dem Motto „schneller, höher, weiter“ die Schrauben weiter anzuziehen.
Heterogene Geschäftsmodelle
Eher ist eine Schubumkehr erforderlich, um vermeidbare Anforderungen und unnötige Bürokratie zu reduzieren, die nicht nur den Banken, sondern auch den Aufsehern selbst zu schaffen machen. Drei Punkte hierzu:
Erstens: Den Besonderheiten der heterogenen Geschäftsmodelle der 113 direkt und der etwa 6.000 indirekt beaufsichtigten Banken muss stärker Rechnung getragen werden. Das Ziel eines Level-playing-field in der Eurozone kann nicht zu einer schematischen Gleichbehandlung aller Banken führen, wie dies vor allem horizontalen Einheiten des SSM einfordern. Ungleiches muss auch ungleich behandelt werden. Die Orientierung an dem Risiko ist dabei ein guter Maßstab.
Schematische Ableitung unzureichend
Zweitens: Dem aufseherischen Urteil muss mehr Raum gegeben werden gegenüber der rein formalen Beurteilung. Die nur schematische Ableitung von Feststellungen anhand von Kennzahlen kann die Gesamtrisikolage eines Instituts nicht erfassen. Aufsicht ist zwar datengetrieben; am Ende muss aber die Gesamteinschätzung des einzelnen Aufsehers stehen.
Drittens: Die Erfassung von aufsichtlichen Daten muss dem Prinzip „Once only“ folgen. Es kann nicht sein, dass dieselben Informationen immer wieder neu und von verschiedenen Stellen, zum Beispiel von der laufenden Aufsicht, von horizontalen Einheiten und von der Prüfung vor Ort, angefordert werden. Die Informationen müssen innerhalb des SSM geteilt werden.
Entbürokratisierung machbar
Auch in der Bankenaufsicht ist Entbürokratisierung nicht einfach, aber machbar, wenn der Wille dazu besteht. In der europäischen Governance mit einer Vielzahl an EU- und nationalen Gesetzgebungsorganen, Standardsetzern und Aufsichtsbehörden bedarf es dafür eines Konsenses und einer gemeinsamen Anstrengung. Womöglich sollte schon jetzt begonnen werden, konkrete Änderungsvorschläge für die in drei Jahren vorgesehene Überprüfung des europäischen Aufsichtsrechts zu sammeln. Auch die anwaltschaftliche Praxis kann dazu beitragen, wenn gewünscht.
Antwort auf Finanzkrise
Bei aller Kritik am Tagesgeschäft: Der SSM ist eine Erfolgsgeschichte und war die richtige Antwort auf die Finanzkrise 2007. In wenigen Jahren wurde von Null an eine leistungsfähige, respektierte europäische Aufsicht geschaffen, dessen Institute sich mit einer CET-Quote (Kernkapitalquote) von durchschnittlich 15,5% im Vergleich zu 12,7% vor zehn Jahren in ihrer Resilienz sehen lassen können.
Eine höhere Marktintegration wurde mit der einheitlichen Aufsicht allerdings nicht erreicht, war womöglich auch gar nicht beabsichtigt. Der SSM kann aber nicht als Beispiel dafür dienen, dass eine europäische Beaufsichtigung das Zusammenwachsen der Märkte fördert. Die regulatorische Arbitrage konnte im Euroraum jedoch stark verringert, wenn auch nicht ganz beseitigt werden.
Mehr Augenmaß und Flexibilität
Mit den in den letzten Jahren neu geschaffenen Regeln u.a. zu den Kapitalanforderungen (CRD, CRR), Auslagerungen (DORA) oder Geldwäsche (AMLD, AMLR) kommt jetzt ein erheblicher Umsetzungsaufwand auf die Institute und die Aufseher zu. Von den Banken wird zudem erwartet, die Finanzmittel für die Transformation der europäischen Volkswirtschaft in eine digitale und CO2-freie Welt zur Verfügung zu stellen. Makroökonomische und geopolitische Risiken machen auch Banken verwundbarer. Die Chancen der Digitalisierung stehen Risiken gegenüber, die die Banken im Griff haben müssen. An Herausforderungen wird es dem SSM in den nächsten 10 Jahren nicht mangeln. Mehr Fokus, Augenmaß und Flexibilität sollten ihm dabei helfen.
*) Dr. Alexander Behrens ist Partner und Prof. Dr. Joachim Wuermeling Of Counsel im Frankfurter Büro von A&O Shearman.
*) Dr. Alexander Behrens ist Partner und Prof. Dr. Joachim Wuermeling Of Counsel im Frankfurter Büro von A&O Shearman.