AUS DER KAPITALMARKTFORSCHUNG

Ansteckungsrisiken in Eurozone nicht vernachlässigen

Zahlungsausfall selbst kleiner Staaten hat signifikanten Einfluss auf Finanzstabilität - Innovatives Risikomaß auf Basis von Markterwartungen entwickelt

Ansteckungsrisiken in Eurozone nicht vernachlässigen

Die Frage, wie systemische Risiken und Ansteckungsgefahren bei Zahlungsausfall eines Mitgliedstaates der Eurozone gemessen werden können, hat in den vergangenen Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch unter politischen Entscheidungsträgern an Bedeutung gewonnen. Denn der Zahlungsausfall eines Mitgliedstaates wirkt sich auf Zinssätze, Kapitalströme und den internationalen Handel aus und beeinträchtigt somit den Wohlstand innerhalb der Eurozone. Bisher in der Finanzliteratur entwickelte Risikomaße quantifizieren oftmals nur die Ausfallrisiken von Unternehmen, können aber nicht unmittelbar die Ausfallrisiken von Staatsschulden verlässlich messen. Da ein Zahlungsausfall eines Staates ein äußerst seltenes Szenario ist, ist die Anwendung von Risikomaßen, welche landesspezifische Entwicklungen in der Vergangenheit statistisch als Berechnungsgrundlage verwenden, nur begrenzt möglich. Basierend auf Erwartungen von Marktteilnehmern kann aber ein innovativer Ansatz zur Messung von systemischen Risiken und Ansteckungsgefahren entwickelt werden. Lange Zeit unbeachtetWährend es bei systemischen Risiken um die Anfälligkeit des gesamten Finanzsystems durch den Ausfall eines der Teilnehmer geht, beschreibt der Begriff Ansteckungsgefahr den Übertragungsmechanismus, welcher zum Kollaps des Finanzsystems führen kann. Vor Ausbruch der Staatsschuldenkrise in der Eurozone kamen die Begrifflichkeiten innerhalb der akademischen Literatur hauptsächlich im Zusammenhang mit Banken, nichtfinanziellen Instituten und Finanzmärkten im Allgemeinen vor. Die Auswirkungen eines Zahlungsausfalls eines Mitgliedstaates auf die Finanzstabilität Europas wurden kaum diskutiert.Kürzlich entwickelte Risikomaße zur Messung von systemischen Risiken wie der Conditional Value at Risk (CoVaR) von Adrian und Brunnermeier (2015), der Marginal Expected Shortfall (MES) von Acharya et al. (2012) und der Shapley Value von Tarashev et al. (2010) verwenden Bilanz- und Marktdaten, um das Risikoausmaß im Finanzsystem zu erfassen. Für Staaten sind solche Daten nur begrenzt verfügbar, so dass diese Risikomaße kaum zu verwenden sind. Ersatz für fehlende DatenDieser Artikel beschreibt einen anderen Ansatz für die Messung des systemischen Risikos, wofür solche spezifischen Daten nicht benötigt werden. Anstelle der Vermögenswerte der Mitgliedsländer, die bei einem Verlust einen negativen Einfluss auf die gesamte Eurozone haben, wird die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Mitgliedstaaten zur selben Zeit ausfallen, als Maß für das systemische Risiko verwendet. Da das systemische Risiko per Definition das Risiko eines Zusammenbruchs des Finanzsystems bei Ausfall eines Teilnehmers beschreibt, nähern wir uns mit diesem Ansatz dieser Definition und können gleichzeitig das Problem bezüglich nicht existenter Daten über Vermögenswerte der Mitgliedsländer lösen.Eine wesentliche Hürde für die Quantifizierung von Ausfallwahrscheinlichkeiten in der Eurozone ist das niedrige Aufkommen von Zahlungsausfällen in der Historie, weshalb statistische Auswertungen nahezu unmöglich sind. Würde man mit der geringen Anzahl dennoch statistische Aussagen treffen wollen, wäre nur eine statische Interpretation möglich, nicht aber die Quantifizierung der dynamischen Entwicklung des systemischen Risikos über die Zeit hinweg. Besonders strukturelle Änderungen, wie etwa durch Regulierungsmaßnahmen, könnten nicht erfasst werden. Schätzung auf Basis von CDSAufgrund dieser Defizite verwenden wir im Folgenden Daten über Credit Default Swaps (CDS), um dynamische Ausfallwahrscheinlichkeiten von Mitgliedsländern mit Hilfe finanzmathematischer Methoden zu schätzen. Die Schätzung von Ausfallwahrscheinlichkeiten basierend auf CDS-Daten hat einige ökonomische und statistische Vorteile. CDS zeichnen sich durch eine sehr hohe Handelsfrequenz am Markt aus, sind vorausschauend (wohingegen Zahlungsausfälle in der Vergangenheit nur rückblickend sind) und reflektieren die Erwartungen der Marktteilnehmer bezüglich Zahlungsausfällen von Mitgliedstaaten. Der letzte Punkt ist besonders für Mitgliedsländer der Eurozone wichtig, da sich die Regierungen auf den Kapitalmärkten mit kurz- und langfristiger Liquidität refinanzieren und somit die Erwartungen von Geldgebern berücksichtigt werden müssen.Des Weiteren dienen die Reaktionen des Marktes als wichtiger Indikator dafür, inwieweit politische Maßnahmen als tragfähig und glaubwürdig angesehen werden. Die CDS-basierten Ausfallwahrscheinlichkeiten erfüllen damit alle Kriterien für ein aussagekräftiges systemisches Risikomaß innerhalb der Literatur der Finanzstabilität: flexible Anwendung auf Länder, vorausschauende Sichtweise, Übereinstimmung mit empirischen Beweisen und Anwendbarkeit für Aufsichtsbehörden. Verbindungen berücksichtigtEs gibt einige kritische Faktoren bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten eines systemisch relevanten Zahlungsausfalls von Mitgliedstaaten. Der erste Schritt ist die Berechnung der sogenannten gemeinsamen Ausfallwahrscheinlichkeit von mehreren Staaten zur gleichen Zeit.Diese spezielle Ausfallwahrscheinlichkeit enthält mehr Informationen über Risiken in der Eurozone als die Ausfallwahrscheinlichkeit eines einzelnen Staates, da darin auch komplexe Interaktionen und Verbindungen zwischen den Mitgliedsländern erfasst werden. Im nächsten Schritt sollten wir verschiedene hypothetische Szenarien bezüglich Zahlungsausfällen von mehreren Mitgliedsländern analysieren, damit Auswirkungen auf systemische Risiken innerhalb der Eurozone erfasst werden können. Dafür benötigen wir sogenannte bedingte multivariate Ausfallswahrscheinlichkeiten. Diese geben den Ausfall eines Mitgliedstaates wieder unter der Voraussetzung des Zahlungsausfalls eines anderen Landes (was für Auswirkungen würde beispielsweise ein Ausfall von Portugal oder Griechenland auf die Eurozone haben?). Als Nächstes brauchen wir eine Maßgröße, um den individuellen Beitrag eines Mitgliedstaates zum systemischen Risiko aufgrund der Abhängigkeit zwischen den Ländern der Eurozone zu erfassen. Dies ist relevant, um Kaskadeneffekte und Übertragungsrisiken zwischen den Euro-Ländern quantifizieren zu können. Solch eine Maßzahl gibt uns Informationen über die zusätzliche marginale Risikomenge, welche die gesamte Eurozone aufgrund des Zahlungsausfalls eines einzelnen Mitgliedstaates zu tragen hat. Folgen für das SystemMit dieser Herangehensweise wird ein neues Maß für systemische Risiken bei Zahlungsausfällen eingeführt. Die marginale Risikomenge, die das gesamte System nach dem Ausfall eines Mitgliedstaates zusätzlich zu tragen hat, wird im Folgenden die “Veränderung der bedingten gemeinsamen Ausfallwahrscheinlichkeit” (englisch: change in the conditional joint probability of default), kurz: Delta CoJPoD genannt. Delta CoJPoD ist die Differenz zwischen CoJPoD, der gemeinsamen Ausfallwahrscheinlichkeit der Eurozone unter der Voraussetzung des Zahlungsausfalls eines bestimmten Mitgliedstaates, und CoJPoD’, derselben Ausfallwahrscheinlichkeit, aber unter der Annahme, dass das Mitgliedsland (im statistischen Sinne) unabhängig vom Rest der Eurozone ist. Einfache AussageDie Aussage dieses Risikomaßes ist einfach: Wenn die unabhängige bedingte Ausfallwahrscheinlichkeit (CoJPoD’) der abhängigen bedingten Auswahrscheinlichkeit (CoJPoD) entspricht, würde aus Sicht der internationalen Investoren der Ausfall eines bestimmten Mitgliedstaates (z. B. Portugal) keinen marginalen Risikobeitrag zum Gesamtrisiko in der Eurozone haben. In diesem Fall würde der Zahlungsausfall von Portugal aufgrund der statistischen Unabhängigkeit zur Eurozone keine “neuen” Informationen über die Gesamtfragilität des Finanzsystems erbringen.Um ein einfaches Beispiel für Delta CoJPoD zu geben, betrachten wir die Veränderung der bedingten Ausfallwahrscheinlichkeit von Irland für den Fall, dass Portugal zahlungsunfähig wird. In Grafik 1 ist die Entwicklung der Komponenten von Delta CoJPoD veranschaulicht. Wir können feststellen, dass es eine signifikante Differenz gibt zwischen der bedingten Ausfallwahrscheinlichkeit von Irland – gegeben ein Ausfall von Portugal – (blaue Linie) und der Ausfallwahrscheinlichkeit bei Unabhängigkeit zwischen Portugal und Irland (rote Linie). Die Differenz der zwei Linien entspricht der Delta CoJPoD, welche die internationalen Investoren als zusätzliche Informationen über die Ausfallwahrscheinlichkeit Irlands – gegeben ein Ausfall von Portugal – interpretieren.Grafik 2 veranschaulicht die Dynamik von Delta CoJPoD(IrPt) (blaue Linie). Wir können beobachten, dass sich die Ausfallwahrscheinlichkeit von Irland – gegeben Portugal fällt aus – von 10 Prozentpunkten auf 50 Prozentpunkte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, als Lehman Brothers zusammen gebrochen ist, erhöht. Nach einem Rückgang zeigt sich ab Anfang 2010 ein weiterer Anstieg, der sich bis Anfang 2011 wiederum 50 Prozentpunkten nähert. Obwohl unser Risikomaß darauffolgend fällt, unterschreitet es die 20-Prozentpunkt-Linie erst Ende 2012. Seit Anfang 2013 ist der Risikobeitrag sukzessiv zurückgegangen und hat sich bei 10 Prozentpunkten von Mitte 2014 an verfestigt. Wir können insgesamt festhalten, dass ein potenzieller Zahlungsausfall Portugals einen starken Effekt auf den Zahlungsausfall von Irland hat.Das Beispiel zeigt, dass bei der Analyse von Übertragungsrisiken im Finanzsystem die räumliche Dimension des Systems beachtet werden muss: Der Zahlungsausfall eines bestimmten Staates hat einen Einfluss darauf, wie Investoren den Ausfall eines anderen Staates bewerten. Ein potenzieller Ausfall von mehreren Ländern würde entsprechend die Wahrnehmung der Finanzstabilität des gesamten Systems ändern und sogar finanziell sichere Länder bedrohen – die Kaskadeneffekte treten ein.Die blaue Linie in Grafik 2 veranschaulicht, dass der Zahlungsausfall von Portugal aus der Perspektive von Marktteilnehmern einen erheblichen Einfluss auf die Ausfallwahrscheinlichkeit von Irland hat. Da allerdings beide Länder relativ klein sind, wenn man die gesamte Eurozone betrachtet, könnten ausgehende Übertragungsrisiken bei einem Zahlungsausfall von beiden Ländern von den neu errichteten Stabilitätsmechanismen EFSF und EFSM aufgefangen werden. KaskadeneffekteEin oft debattiertes Thema unter politischen Entscheidungsträgern und Aufsichtsbehörden ist die Frage, inwieweit der Zahlungsausfall kleinerer Mitgliedsländer der Eurozone sich auf größere Peripherieländer wie Spanien und Italien auswirken könnte. Um die systemische Relevanz dieser kleineren Mitgliedsländer zu bewerten, sollten wir einen Blick in die Finanzliteratur werfen und analysieren, inwieweit der Zahlungsausfall von einzelnen Finanzinstituten zu Ausfällen von Zahlungsverpflichtungen anderer Finanzinstitute führt. Oftmals muss ein staatlicher Eingriff im Finanzsystem erfolgen, wenn eine kritische Masse von kleineren Finanzinstituten von der Pleite bedroht ist. Dabei wird vom “Too many to fail”-Problem gesprochen, das mit dem “Too big to fail”-Argument eng verwandt ist. In unserem Beispiel würde dies bedeuten, dass bei einem Zahlungsausfall von Irland oder Portugal die finanziellen Mittel in den Mechanismen EFSF und EFSM nicht ausreichen würden, um einen Ausfall Italiens oder Spaniens zu verhindern, da deren Staatsschulden zu hoch sind. Deshalb kann der Ausfall selbst kleinerer Länder zu einem Kollaps des gesamten Finanzsystems in der Eurozone führen. Wie aus Grafik 2 ersichtlich, hätte ein zeitgleicher Zahlungsausfall von Irland und Portugal einen wesentlichen Einfluss auf die empfundene Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls von Spanien. Politik muss reagierenDer letzte Analyseschritt ist die Quantifizierung der von Investoren erwarteten Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls der gesamten Eurozone, wenn alle drei Mitgliedsländer (Spanien, Irland und Portugal) zur gleichen Zeit ihre Schulden nicht bedienen können (siehe Grafik 3: Auswirkungen eines gleichzeitigen Zahlungsausfalls von Spanien, Irland und Portugal auf die Eurozone (rote Linie) versus die Auswirkungen auf die Eurozone, wenn nur Spanien ausfällt (schwarze Linie)). Ausgehend von einem alleinigen Ausfall Spaniens erhöht sich der systemische Risikobeitrag nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers um das Dreifache und während der Staatsschuldenkrise um das Zwei- bis Vierfache, wenn Spanien, Irland und Portugal gleichzeitig ausfallen würden. Deshalb sollte ein solches Szenario, welches durch potenzielle Kaskadeneffekte ausgelöst wird, von politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden, da das Ausmaß katastrophale Folgen haben kann.Diese Resultate zeigen, dass aus Sichtweise des Finanzmarktes die Interdependenz zwischen Staaten einen signifikanten Einfluss auf die Finanzstabilität hat. Dies bedeutet, dass selbst kleinere Länder eine wichtige Rolle für die Gewährleistung der Finanzstabilität spielen. Wenn einmal der Zahlungsausfall eines Staates eintritt, kann die Ausbreitung auf das gesamte System nur sehr schwer verhindert werden.Daraus folgt, dass Übertragungseffekte und systemische Risiken innerhalb der Eurozone, insbesondere während der immer noch andauernden Staatsschuldenkrise, von politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden müssen.Der Delta CoJPoD ist ein innovatives und flexibles Risikomaß, welches das entschiedene Vorgehen von Aufsichtsbehörden und anderen politischen Entscheidungsträgern gegen ein Aufkommen von Staatspleiten in den letzten Jahren rechtfertigt. Da es Markterwartungen widerspiegelt, kann es ebenfalls als Instrument genutzt werden, um Erwartungen bezüglich künftiger Rettungsmaßnahmen im Finanzsystem der Eurozone zu erfassen.