Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Albrecht von Graevenitz

"Bundeskartellamt räumt nicht alle Stolpersteine aus dem Weg"

Bagatellbekanntmachung: Behörde hilft Unternehmen bei Selbsteinschätzung

"Bundeskartellamt räumt nicht alle Stolpersteine aus dem Weg"

– Herr von Graevenitz, das Bundeskartellamt hat kürzlich eine sogenannte Bagatellbekanntmachung sowie ein Merkblatt für kleine und mittlere Unternehmen vorgelegt. Welche Konsequenzen hat das für Firmen im Wettbewerb?Jeder Kartellrechtsverstoß birgt das Risiko von Bußgeldern, Unwirksamkeit und Schadenersatzforderungen. Die Einschätzung, ob ein kartellrechtliches Risiko besteht, müssen die Unternehmen seit den vergangenen großen deutschen und europäischen Kartellrechtsnovellen weitgehend ohne behördliche Hilfe vornehmen. Mit den Bekanntmachungen will das Amt den Unternehmen nun bei der Selbsteinschätzung helfen. – Worum geht es dabei? Mit der Bagatellbekanntmachung erläutert das Amt, bei welchen Marktanteilen es wettbewerbsbeschränkende Abreden zwischen Wettbewerbern oder Nichtwettbewerbern grundsätzlich als nicht bußgeldrelevant einschätzt. Die Schwellen sieht das Amt je nach Umständen zwischen 5 und 15 %. Mit dem Merkblatt für kleine und mittlere Unternehmen erläutert das Amt eine deutsche Sonderregelung zur Privilegierung von Mittelstandskartellen. – Und sehen Sie dieses Ziel mit den Bekanntmachungen des Bundeskartellamts erreicht?Grundsätzlich wird natürlich die Rechtssicherheit erhöht. Es bleiben aber Unsicherheiten. – Welche? Die Bagatellbekanntmachung gilt schon von vornherein nicht für bestimmte, besonders wettbewerbsschädliche Vereinbarungen. Zudem bindet sie nur das Bundeskartellamt. Die zivilrechtlichen Wirkungen eines Kartellverstoßes werden aber meist in gerichtlichen Verfahren festgestellt. Zwar hat sich das Bundeskartellamt bei der Bagatellbekanntmachung sehr eng an der weithin beachteten “De-minimis-Bekanntmachung” der Europäischen Kommission von 2001 orientiert. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass ein Gericht eine Vereinbarung als kartellrechtswidrig und damit als nichtig oder gar schadenersatzrelevant ansieht, obwohl die vom Amt angegebenen Marktanteilsschwellen nicht überschritten sind. Dies gilt umso mehr, als das Bundeskartellamt selbst andeutet, dass es auch bei Unterschreiten der Marktanteilsschwellen einen zivilrechtlich relevanten Kartellrechtsverstoß für nicht ausgeschlossen hält. – Was passiert, wenn das Bundeskartellamt trotz des Unterschreitens der Marktanteilsschwellen aktiv wird?In diesen Fällen will das Bundeskartellamt “regelmäßig” von einem Bußgeldverfahren absehen und zunächst nur das Abstellen des zu beanstandenden Verhaltens verlangen. Ein Bußgeld dürfte in diesen Fällen damit nur drohen, wenn einer entsprechenden Aufforderung des Amts nicht Folge geleistet wird. Probleme können allerdings dadurch entstehen, dass neben oder statt des Bundeskartellamts andere Kartellbehörden, bezogen auf Deutschland insbesondere die Europäische Kommission oder eine Landeskartellbehörde, zuständig sein können. Diese sind ebenfalls nicht an die Bagatellbekanntmachung gebunden und entscheiden teils auf anderer Rechtsgrundlage. – Mit seinem 24-seitigen Merkblatt hat sich das Bundeskartellamt offenbar speziell an kleine und mittlere Unternehmen gewandt. Was ändert sich? Zugunsten von kleinen und mittleren Unternehmen hat der Gesetzgeber eine besondere Privilegierung vorgesehen. So gelten Vereinbarungen von Wettbewerbern, die die Rationalisierung wirtschaftlicher Vorgänge durch zwischenbetriebliche Zusammenarbeit zum Gegenstand haben, dann als kartellrechtskonform, wenn hierdurch der Wettbewerb nicht wesentlich beeinträchtigt wird und die Vereinbarung oder der Beschluss dazu dient, die Wettbewerbsfähigkeit kleiner oder mittlerer Unternehmen zu verbessern. Damit werden Kooperationen von kleinen und mittleren Unternehmen, gegebenenfalls sogar unter Beteiligung von Großunternehmen, möglich, die nach allgemeinem Kartellrecht unzulässig wären. Diese Regelung besteht freilich schon länger. Das Merkblatt des Amts lotet aber nunmehr ihre Reichweite aus. – Das klingt nach mehr Freiraum für Unternehmen.Auch hier gibt es Stolpersteine. Das Merkblatt bindet weder die Gerichte noch andere Behörden, insbesondere nicht die Europäische Kommission. Die beschriebene Privilegierung geht zudem weiter als das europäische Kartellrecht. Dieses genießt jedoch Vorrang, wenn ein Verhalten geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel spürbar zu beeinträchtigen. Da Letzteres oft der Fall ist und damit das strengere EU-Recht Anwendung findet, ist die Bedeutung der Ausnahme im deutschen Recht eher gering. Dennoch gibt es Fälle, in denen die Regelung greift. Zudem erläutert das Amt in dem Merkblatt, wie kleine und mittlere Unternehmen eine Einschätzung des Amtes zu Einzelfragen erhalten können. – Auch Einkaufskooperationen sind von den neuen Bekanntmachungen des Bundeskartellamts erfasst.Die Europäische Kommission vertritt die Auffassung, dass ein Kartellrechtsverstoß durch eine Einkaufskooperation dann “unwahrscheinlich” ist, wenn die Beteiligten auf den relevanten Märkten einen gemeinsamen Anteil von 15 % nicht überschreiten. Das Amt hat sich dieser Sichtweise nur eingeschränkt angeschlossen und konnte sich nicht dazu durchringen, die Schwelle in die Erklärung über die grundsätzliche bußgeldrechtliche Nichtverfolgung mitaufzunehmen. Liegt der Marktanteil der betroffenen Unternehmen damit auf einem oder mehreren betroffenen Märkten über den Schwellenwerten der Bagatellbekanntmachung, wird damit nicht nur mit Blick auf etwaige abweichende gerichtliche Einschätzungen, sondern auch mit Blick auf die Kartellbehörden eine genauere kartellrechtliche Betrachtung vor Abschluss einer Einkaufskooperation sinnvoll sein. Albrecht von Graevenitz ist Counsel bei Clifford Chance in Frankfurt.Die Fragen stellte Walther Becker.