Deutsches Kartellrecht umfassend überarbeitet
Von Peter Giese *)Kürzlich hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) seinen mit Spannung erwarteten Entwurf der 10. GWB-Novelle in die Ressortabstimmung gegeben. Bereits vorher war klar, dass das Thema Digitalisierung der deutschen Missbrauchsaufsicht, also der Kontrolle von marktmächtigen Unternehmen durch das Bundeskartellamt, ein zentraler Baustein der Neuregelungen wird.Darüber hinaus ist der Gesetzgeber durch die sogenannte ECN-Plus-Richtlinie des EU-Parlaments zur Anpassung des deutschen Kartellrechts an die Brüsseler Vorgaben gezwungen. Dies scheint das BMWi zum Anlass genommen zu haben, das deutsche Kartellrecht – weit über die Digitalisierung hinaus – grundlegend zu überarbeiten. Der vorliegende Entwurf enthält eine Vielzahl von Änderungen in nahezu allen kartellrechtlichen Teilbereichen, die mit einer Digitalisierung des Kartellrechtes nichts zu tun haben.In den vergangenen Jahren haben einstweilige Maßnahmen in der Rechtspraxis der EU-Kommission und des Bundeskartellamtes es keine wesentliche Rolle gespielt. Nun hat Brüssel in den vergangenen Monaten die einstweiligen Maßnahmen für sich entdeckt, was besondere der Chiphersteller Broadcom erfahren musste. Dem will Berlin nicht nachstehen und senkt die Eingriffsvoraussetzungen, unter denen das Bundeskartellamt einstweilige Maßnahmen treffen kann. Künftig soll es beispielsweise genügen, dass ein Verstoß überwiegend wahrscheinlich und eine Maßnahme zum Schutze des Wettbewerbs geboten ist.Unternehmen dürfen künftig auf ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit hoffen. Grundsätzlich obliegt die rechtliche Einschätzung, ob ein Verhalten kartellrechtlich zulässig ist, den Unternehmen selbst. Nur unter engen Voraussetzungen kann das Bundeskartellamt bisher entscheiden, dass kein Anlass zum Tätigwerden besteht.Der Entwurf sieht zusätzlich nun die gesetzliche Verankerung des sogenannten Vorsitzendenschreibens vor. Diese hat das Bundeskartellamt in seiner Anwendungspraxis entwickelt, um Unternehmen mitzuteilen, dass es von einer vertieften Prüfung einer bestimmten Verhaltensweise absieht. Der Entwurf führt darüber hinaus in bestimmten Fällen einen rechtlichen Anspruch von Unternehmen gegenüber dem Kartellamt auf ein solches Schreiben ein. Dies gilt in jedem Fall für Kooperationen von Wettbewerbern, nicht jedoch für Vertikalverhältnisse, beispielsweise nicht für die Prüfung von Vertriebssystemen. Betroffenheit vermutetIn kartellrechtlichen Schadenersatzprozessen soll künftig auch die Kartellbetroffenheit, also der Nachweis, dass bestimmte Rechtsgeschäfte über Waren- oder Dienstleistungen von einem Kartell erfasst waren, widerleglich vermutet werden. Dadurch müssen künftig die beklagten Unternehmen nachweisen, dass bestimmte Geschäfte nicht von einem Kartell erfasst waren. Die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der sich im Schienenkartell-Urteil unter anderem deutlich gegen einen Anscheinsbeweis für die Kartellbetroffenheit ausgesprochen hat, wird dadurch korrigiert.Bisher müssen Unternehmenszusammenschlüsse angemeldet werden, wenn – neben weiteren Voraussetzungen – mindestens eines der beteiligten Unternehmen Umsätze in Deutschland von mehr als 25 Mill. Euro und ein weiteres Unternehmen von über 5 Mill. Euro erzielt. Die Schwelle von 5 Mill. Euro soll nun auf 10 Mill. Euro erhöht werden. So müssen künftig weniger Zusammenschlüsse beim Kartellamt angemeldet werden. Im Gegenzug soll die Behörde für die vertiefte Prüfung von Zusammenschlüssen mehr Zeit erhalten, nämlich fünf Monate statt bisher vier Monate ab Anmeldung.Aufgrund der Vorgaben der ECN-Plus-Richtlinie war zu erwarten, dass die Zusammenarbeit der europäischen Wettbewerbsbehörden eine umfangreiche gesetzliche Neuregelung erfahren wird. Dies ist im Entwurf geschehen, der sich weitgehend im Rahmen der Vorgaben der Richtlinie bewegt. Akteneinsicht wird geregeltWesentliche Änderungen sieht der Entwurf für das Verwaltungsverfahren zum Erlass einer Untersagungsverfügung und für das Bußgeldverfahren vor: Detailliert soll für das Kartellverwaltungsverfahren die Akteneinsicht für (Kartell-)Beteiligte und sonstige Dritte in die Verfahrensakten des Bundeskartellamtes geregelt werden. Klargestellt ist dabei, dass Dritten zur Vorbereitung eines Schadenersatzanspruches grundsätzlich nur Einsicht in die Entscheidungen des Amtes gewährt wird. Auch mündlichNeu aufgenommen wird die Möglichkeit der Behörde, die schriftliche Anhörung der Kartellbeteiligten durch eine mündliche Anhörung zu ersetzen. Die Anhörung im Verwaltungsverfahren wurde bisher durch die Übersendung eines Entscheidungsentwurfes und der Gelegenheit zur Stellungnahme durchgeführt. Fraglich ist, wie eine mündliche Anhörung in der Praxis künftig abgewickelt werden soll, wenn man bedenkt, dass Entscheidungsentwürfe des Amtes selten weniger als 100 Seiten umfassen. Es drängt sich die Frage auf, wie sich ein Kartellbeteiligter in einer mündlichen Anhörung und gegebenenfalls ohne angemessene Vorbereitung durch Prüfung eines Entscheidungsentwurfs gegen die Vorwürfe des Bundeskartellamtes zur Wehr setzen können soll. Ob damit das Recht auf rechtliches Gehör gewahrt bleibt, darf – bis auf wenige Ausnahmefälle – bezweifelt werden.Eine wesentliche Erweiterung der Kompetenzen sowohl im Verwaltungs- als auch im Bußgeldverfahren sieht der Entwurf für die Mitwirkungspflichten von Unternehmen gegenüber dem Bundeskartellamt vor. Bisher konnten sich Unternehmen und ihre Vertreter grundsätzlich auf ihr Aussageverweigerungsrecht berufen. Dieses bewahrte sie davor, belastende Informationen an die Behörde herausgeben zu müssen.Dieser aus dem Fair-Trial-Prinzip herrührende Grundsatz soll für Kartelluntersuchungen künftig nicht mehr uneingeschränkt gelten. Vielmehr sollen bußgeldbewehrte aktive Mitwirkungspflichten der Unternehmen an der Untersuchung des Bundeskartellamtes begründet werden, die ihre Grenze nur noch darin finden, dass kein Unternehmen zu einem Geständnis gezwungen werden darf. Demgegenüber soll das Bundeskartellamt jedoch mittels Auskunftsverlangen von Unternehmen alle relevanten Unterlagen anfordern können, auch wenn diese für das Unternehmen belastend sind. Auch im Rahmen von Durchsuchungen (“dawn raids”) müssen die Unternehmensvertreter künftig aktiv mitwirken und Erläuterungen zu allen Fakten oder Unterlagen abgeben, auch wenn diese belastend für das Unternehmen sind. Die strafprozessualen Aussageverweigerungsrechte sollen für das Kartellrecht – verfassungsrechtlich fragwürdig – ausdrücklich eingeschränkt werden. Mit KronzeugenverfahrenFür die Bemessung der Höhe des Bußgeldes zur Ausfüllung der Obergrenze von 10 % enthält der Entwurf einen nicht abschließenden Katalog an Zumessungskriterien. Dieser Katalog soll unter anderem der Kritik entgegenwirken, dass sich die Bußgelder des Kartellamtes und des Oberlandesgerichts Düsseldorf in der Vergangenheit erheblich unterschieden, und dadurch Adressaten eines Bußgeldbescheides von der gerichtlichen Überprüfung abgeschreckt werden sollten. Ob dieser Kritik mit dem nun vorgesehenen Kriterienkatalog effektiv begegnet werden kann, muss sich erst noch in der Praxis erweisen.Entsprechend den Vorgaben der ECN-Plus-Richtlinie wurde auch das Kronzeugenverfahren gesetzlich geregelt. Bisher wurden Kronzeugenverfahren in Deutschland auf Grundlage der sogenannten Bonusbekanntmachung des Bundeskartellamtes durchgeführt.Der Entwurf des BMWi enthält also eine Vielzahl von Neuerungen für die künftige unternehmerische Praxis. Die Menge der vorgesehenen Änderungen macht deutlich, dass es sich nicht nur – wie der Titel suggeriert – um ein “GWB-Digitalisierungsgesetz”, sondern eine der umfassendsten Novellierungen des deutschen Kartellrechtes. *) Peter Giese ist Counsel von CMS Deutschland.